Planetary Futures:
Über Leben in kritischen Zeiten
Marc Boeckler (Frankfurt)
Das Tagungsmotto „Planetare Zukünfte“ des 62. Deutschen Kongress für Geographie (DKG) geht von der zeitdiagnostischen Beobachtung aus, dass wir uns in kritischen Zeiten befinden, in denen das Leben seine Selbstverständlichkeit verloren hat. Pandemie, Klimawandel und Biodiversitätsverlust stehen exemplarisch für die Erkenntnis, dass nach einer Phase anthropogener Ausbeutung wieder die Erde mit ihren physikalischen, chemischen und biologischen Wechselwirkungen die Herrschaft übernommen hat. Abermals wird die Geographie zu einer akademischen Schlüsseldisziplin, die über das besondere natur- und gesellschaftswissenschaftliche Instrumentarium verfügt, sich theoretisch und angewandt mit der Zukunft der Erde als Ort planetarischen Lebens wissenschaftlich auseinanderzusetzen. Dabei laden unter anderem folgende Fragen zu einer Problematisierung der Gegenwart ein.
Planetary
Wenn der Mensch die Natur nicht länger beherrscht, greift dann die Rede vom Anthropozän nicht zu kurz? Drängt sich nicht eher das „Planetarische“ als Epochen-Konstellation auf? Das Zeitalter der Erde? Was aber ist das Planetare? Ein Denkstil? Eine umfassende Maßstabsbeschreibung, die kein Außen mehr kennt? Eine Antithese zu den Abstraktionen des Globalen? Eine humanistische Kategorie? Ausdruck der Sorge um die Welt? Gesellschaftliche Globalisierungsprozesse hatten die Kugelgestalt der Erde entdeckt und das dominante Bild territorial geordneter Nationalstaaten in den Hintergrund treten lassen. Im „Planetaren Zeitalter“ kehrt „terra“ nun als materielles Substrat der Erde zurück. Wörtlich kann man fragen: Où atterrir? Wo werden wir landen?
Futures
Alle gesellschaftlichen Epochen kennen ihre eigenen Modi der Zukunftsgestaltung. Mit der rationalen Moderne verschoben sich die dominanten Praktiken der Zukunftsbearbeitung von Hoffen und Glauben zu Wissen und Planung, von Vorsehung zu Vorhersage, von Weissagung zu Wahrscheinlichkeit. Finanzialisierungsprozesse haben den ökonomischen Wert der Zukunft in die Gegenwart gefaltet. Big Data und Mustererkennung versprechen einen vorhersehenden Zugriff auf nahende Ereignisse durch die einfache Fortschreibung der Vergangenheit. Gleichzeitig ist die Zukunft mit den radikalen Umbrüchen der Gegenwart wieder in hohem Maße unsicher und bedrohlich geworden. Planetare Zukünfte sind beides. Vorsehung und Vorhersage. Die Suggestion umfassender Vorhersehung trifft auf die Vorsehung einer endlichen Zukunft. Der Klimaaktivismus möchte zwar die Zukunft retten (Fridays for Future), aber vermag die Transformationsforschung eine tragfähige politische Utopie entwickeln, wenn sie doch mehr auf die Reparatur der Vergangenheit als auf die Gestaltung der Zukunft abzielt? Vielleicht ist Klimaangst lediglich eine sehr weiße und nördliche Befindlichkeit? Offen gefragt. Welche Zukünfte und Zukunftserwartungen gestalten die Gegenwart im »planetaren Zeitalter«?
Über Leben
Die in dystopischen Bildern gezeichnete Zukunft erinnert daran, dass Leben atmosphärisch betrachtet ohne Leben nicht überleben kann, der Planet zwar den Menschen überleben wird, der Mensch sich selbst aber nicht. Gleichzeitig wird Leben selbst zu einer umkämpften Kategorie. Gentechnologie, künstliche Intelligenz und Bioökonomie zwingen das anthropozentrische Verständnis von Leben zu einer Erneuerung. Ein halbes Jahrhundert neoliberale Umgestaltung von Politik und Gesellschaft hat eine globale Ungleichheitskrise geschaffen, in der für einen Großteil der Menschheit das alltägliche Überleben selbst kritisch geworden ist. Nicht nur Flut, Dürre, Hitze und Krieg zwingen Menschen zur Flucht, auch die steigende Wohnungsnot raubt einer wachsenden Zahl an Menschen ihr Zuhause. Vielleicht ist das Planetare Zeitalter weniger durch „terra“ und mehr von „tera“ geprägt. Wird Geographie zur Teratologie, zur Lehre von den vielfältigen Fehlbildungen der Moderne(n)?
In kritischen Zeiten
Im strengen Wortsinn sind kritische Zeiten entscheidende Zeiten. Es ist aber auch die Zeit für Kritik. Das „Geo“ in Geographie hat sich schon immer auf die Planetarität der Welt als Ganzes bezogen. Für die Physische Geographie ist damit die Konstitution der Erdsystemforschung verbunden. Für die Humangeographie steht eher die posthumanistische Dezentrierung des Menschen im Vordergrund. Wie lassen sich mehr-als-menschliche Ontologien mit der physisch-geographischen Erforschung der Vernetzung der Komponenten des Erdsystems ins Gespräch setzen? Weil die „kritischen Zeiten“ auch an die besondere Tradition der kritischen Theorie des Standorts Frankfurt erinnern, wird Geographie mit Blick auf planetare Zukünfte wieder zur „kritischen Erdwissenschaft“? Wie könnte eine solche Disziplin aussehen, die in kritischen Zeiten über das Leben natur- und sozialwissenschaftlich nachdenkt? Muss die Erdsystemforschung zwingend humangeographisch betrieben werden, weil nun mal der Kapitalismus für das Kapitalozän verantwortlich zeichnet? Könnte eine „vegetabile Geographie“ aufbauend auf der Kritik des Plantationocene an Kolonialismus, Kapitalismus und Rassismus auch die Beziehungen zwischen Mensch und der Erde neu justieren? Emergiert eine neue kritische Erdkunde an der Schnittstelle des „becoming geological“ und dem „planetary social thought“? Oder ist es für korrektive Visionen nicht längst zu spät und man muss sich mit dem Entwurf einer Geographie der Adaption begnügen, mit der Anpassung an die Folgen des nahenden Desasters. Brauchen wir Geographien des Verlusts, die den Umgang mit der Katastrophe lehren und eine bescheidene Haltung des Aushaltens von Schmerz und Krankheit vermitteln?
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