Außenwelt, Innenwelt und Mitwelt: Von der Bedeutung philosophischer Anthropologie für die Humangeographie

Vortrag
Sitzungstermin
Mittwoch (20. September 2023), 11:00–12:30
Sitzungsraum
HZ 14
Autor*innen
Serge Leopold Middendorf (Universität Augsburg)
Kurz­be­schreib­ung
Durch erneute Lektüre von Plessner sollen mögliche neue Verständnisse des Raumbegriffs vorgestellt werden. Zentral ist dabei die Differenzierung von Raum in Außenwelt, Innenwelt und Mitwelt. Dabei soll herausgearbeitet werden, dass anthropologische und räumliche Fragen voneinander untrennbar sind.

Abstract

Der Call zur Sitzung konstatiert eine disziplinäre Krisis: Der Raum sei aus den Raumwissenschaften „als Folge seiner Diskursivierung und Versprachlichung ausgetrieben“ worden. Diesen Exorzismen entgegenzuwirken, „damit weite Teile der Humangeographie nicht mehr sprachlos vor dem Raum stehen, da sie keine Begriffe mehr hat, ihn zu thematisieren und diese Dimensionalität und Materialität jedweder irdischen Existenz wieder in den Fokus zu rücken“ ist das resultierende Postulat (verändert aus dem Call übernommen).

Prima facie scheint dies widersprüchlich: die „Versprachlichung“ der Raumwissenschaften lässt die Humangeograpie sprach- und begriffslos in Bezug auf den Raum zurück? Wäre durch die in der Geographie in den vergangenen Jahren stark gewordenen „Neuen Materialismen“ nicht gerade davon auszugehen, dass Materialität stärker in den Fokus rückt?

Doch auch von außerhalb der Geographie sind ähnliche Stimmen zu vernehmen. In seinem Werk „Geosoziologie“ (2022: 74) konstatiert Schroer: „Diese zunehmende Abwendung der Soziologie von geographischen Bedingungen des Sozialen, die heute selbstverständlich erscheint, ist nicht zuletzt insofern zu bedauern, als zumindest die deutschsprachige Geographie sich ihrerseits zu einer „Geographie ohne Raum“ so erfolgreich zu entwickeln bemüht hat, dass inzwischen über eine ‚Geographievergessenheit‘ innerhalb der Geographie selbst geklagt wird.“

Doch gerade an diesen scheinbaren Widersprüchen öffnet sich eine neue Perspektive, die der Call als solche auch explizit anspricht: Raum ist nicht eine Kategorie von vielen, Raum ist die zentrale Kategorie, insbesondere auch menschlichen Daseins. Oder mit Heidegger (1953): „Das Dasein ist räumlich.“

In diese Lücke zwischen Diagnose des Calls und den scheinbaren Widersprüchen möchte ich mit meinem Vortrag stoßen und einen Beitrag leisten, der die Bedeutung einer Hinwendung zu anthropologischen Grundfragen bekräftigen soll. Denn vielleicht ist die Krisis des Raums ja (auch) eine Krisis der (anthropologischen) Grundbegriffe – und somit auch eine Sinnkrise?

Hierfür erscheint mir eine erneute Lektüre Plessers lohnend. Die Unterscheidung und das Zusammenspiel von belebtem und unbelebtem, von menschlichem und nicht menschlichem Leben gerade auch über „räumliche“ Begriffe ist es, die Plessner gerade im Anthropozän interessant für die Humangeographie machen könnte. Dabei sollen drei Begriffe der Plessner’schen philosophischen Anthropologie für eben jene Dimensionen des Raums, der für alles Leben Bedingung, Möglichkeit und „Leiblichkeit“ ist, von besonderer Bedeutung sind angeführt werden: Außenwelt, Innenwelt und Mitwelt. Durch diese Differenzierung wird die Überwindung rein materialistischer Raumbegriffe ebenso möglich, wie die von rein idealistischen. Die Lektüre von Plessner kann helfen, Leerstellen und Inkonsistenzen, die aus einer Raumvergessenheit resultieren aufzuzeigen, wobei anthropologische und räumliche Fragen voneinander untrennbar erscheinen.