Care of: Über die Konstitution vernetzter Wohnräume junger Menschen in städtischen Großwohnsiedlungen

Vortrag
Sitzungstermin
Mittwoch (20. September 2023), 14:30–16:00
Sitzungsraum
HZ 3
Autor*innen
Karoline Fahl (TU Berlin)
Steffen Klotz (TU Berlin)
Kurz­be­schreib­ung
Vernetztes Wohnen beschreibt eine Wohnpraxis von Kindern und Jugendlichen in Großwohnsiedlungen, die das Normverständnis der Wohnung als Ort des Wohnens herausfordert und Wohnen als latente, reproduktive Alltagspraxis einem intentionalen, produktiven Charakter von Homing entgegenstellt.

Abstract

Kinder und Jugendliche erfüllen nicht die Zugangsvoraussetzungen zum Wohnungsmarkt und wohnen in der Regel „c/o“ (engl. care of), also „unter der Obhut von“ erwachsenen Personen. Mit dieser rechtlichen Unvollkommenheit geht ein strukturelles Angewiesensein einher, das sich wesentlich auf das Wohnverhältnis und die Konstitution des Wohnraums von Kindern und Jugendlichen auswirkt. Eigene (Stief-/Groß‑)Elternteile, Eigentümer*innen von Einkaufszentren, Kinos und Grünflächen, Jugend(sozial)arbeiter*innen in Jugendfreizeiteinrichtungen, Elternteile von Freund*innen lassen Kinder und Jugendliche uneingeschränkt, täglich oder zeitweise, ausnahmsweise oder nicht mitwohnen.

In den Großwohnsiedlungen Berlins sind die Wohnverhältnisse im Besonderen durch einen insgesamt angespannten Wohnungsmarkt und knappe Ressourcen der (Privat‑)Haushalte geprägt. Unter diesen Umständen treffen psychosoziale Veränderungen im Heranwachsen auf sich verändernde Familienkonstellationen (Geschwister kommen hinzu oder ziehen aus, Trennung der Eltern, Einzug von Stiefelternteilen). Die Wohnungssituation lässt sich jedoch kaum an die sich wandelnden Bedürfnisse anpassen. Junge Menschen reagieren auf diese inneren und äußeren Bedingungen mit einem Auslagern, Verlagern, Ausweichen oder Ausweiten ihrer Wohntätigkeiten in den Stadtraum. Wir begreifen dieses Wohnen unter dem Arbeitstitel „vernetztes Wohnen“.

Ein vernetztes Wohnen fordert von Kindern und Jugendlichen Mobilität und Flexibilität für die Bewältigung ihres Wohnalltags. Damit stellen wir die modernistische Vorstellung von der Wohnung als den einen Ort des Wohnens in Frage und setzen seinen reproduktiven und latenten Charakter dem intentionalen und produktiven Verständnis von Homing und Zuhause (Boccagni 2022) entgegen. Mit diesen konzeptionellen Überlegungen möchten wir einen spezifischen Debattenbeitrag zur begrifflichen Präzisierung und Bestimmung von „Wohnen“, „Zuhause“, „Home“ und „Homing“ liefern, der dem sensibilisierenden Charakter der dahinter liegenden Konzepte gerecht wird.

Die Erkenntnisse beruhen auf unserer bürger*innenwissenschaftlichen Stadtforschung mit Kindern und Jugendlichen in einer Berliner Großwohnsiedlung. In dem Forschungsprojekt beschreiben wir, wie Wohnraum von Kindern und Jugendlichen reproduziert wird und gehen auf die Konstitutionsprozesse ihrer Wohnräume ein (Löw 2001). In Anlehnung an raumsoziologische Konzepte verstehen wir Wohnen dabei als jene räumliche Praxis, die grundsätzlich und immer wieder Wohnraum hervorbringt. Wir rekonstruieren dabei, wie Kinder und Jugendliche über Alltagsroutinen ihr Netzwerk an Wohnräumen erzeugen und schlüsseln die Herstellungsbedingungen, -praxis und -motive dieses vernetzten Wohnens auf (Kelling u. Pelger 2020).