Der Osten der deutschen Geopolitik: 1897-2023

Vortrag
Sitzungstermin
Mittwoch (20. September 2023), 16:30–18:00
Sitzungsraum
HZ 8
Autor*innen
Niels Werber (Universität Siegen)
Kurz­be­schreib­ung
Die deutsche Geopolitik von Friedrich Ratzel bis Karl Haushofer hat dem "Osten" des Reichs eine ephemere Rolle zugewiesen. Die "zwischen" Deutschland und Russland liegenden Staaten werden einem prekären wie temporären "Zwischeneuropa" zugeschlagen. Der Beitrag wird aktuelle geopolitische und geostrategische Beschreibungen der Ukraine in diese Denktradition, die in die Geopolitik des Deutschen Kaiserreichs zurückweist, einordnen und so einen Beitrag zum Verständnis der Rolle leisten, die Konzepte der klassischen Geopolitik noch immer spielen.
Schlag­wörter
Geopolitik, Zwischeneuropa, Ukraine, Großraumordnung, Pufferstaaten

Abstract

Der Osten spielt in der deutschen Geopolitik von Friedrich Ratzel bis Karl Haushofer Artikel eine besondere Rolle. Während im Westen des „Reiches“ staatliche Organismen auf der gleichen Evolutionsstufe anzutreffen seien, die als Konkurrenten ernst genommen werden müssten, imaginiert die deutsche Geopolitik im Osten des „Reichs“ einen Raum, der von den dort anzutreffenden Bevölkerungen kaum angeeignet und zivilisiert worden sei. Dieser Großraum „Ost“, dem wahlweise Räume, Völker, Nationen und Staaten östlich der Elbe, der Oder, der Weichsel subsumiert wurden und der mal bis zur russischen Grenze, mal bis zum Ural reichte, ist als deutscher Okkupationsraum entworfen worden. Die Nationen, Ethnien, Populationen, deren „Lebensraum“ je nach geopolitischem Entwurf zwischen dem „Deutschen Reich“ und dem „Russischen Reich“ bzw. der Sowjetunion liegt, werden nicht als selbstständige, souveräne Staaten anerkannt, sondern prekären wie temporären Grenzsäumen zugeschlagen, deren Existenz nur als „Puffer“ zwischen den wirklichen Großmächten gerechtfertigt seien, langfristig aber in die deutsche Großraumordnung eingegliedert werden sollten.

Diese Traditionslinie deutscher Geopolitik ist 1945 nicht unterbrochen worden, sondern unter Begriffen „Zwischeneuropa“ weitergeführt worden. Insbesondere nach der Auflösung der Sowjetunion 1991 und der Auflösung des „eisernen Vorhangs“ sind viele neu gegründete oder wieder hergestellte nord‑, mittel- und südosteuropäische Staaten diesem Zwischenraum – nun zwischen der NATO und der Russischen Föderation – zugeordnet worden, einem „Zwischeneuropa“, der nach wie vor einen Raum aus Staaten zweiter Klasse, Völkern sekundärer Souveränität, Kulturen untergeordneten Ranges ausmachen soll. Der Beitrag wird aktuelle geopolitische und geostrategische Beschreibungen der Ukraine in diese Denktradition, die in die Geopolitik des Deutschen Kaiserreichs zurückweist, einordnen und so einen Beitrag zum Verständnis der Rolle leisten, die Konzepte der klassischen Geopolitik noch immer spielen.