Die Frage nach der „Sozialen Frage“

Vortrag
Sitzungstermin
Mittwoch (20. September 2023), 14:30–16:00
Sitzungsraum
HZ 5
Autor*innen
Cosima Werner (Christian-Albrechts-Universität zu Kiel)
Kurz­be­schreib­ung
Obwohl das Konzept der "Sozialen Frage" im 19. Jahrhundert im Kontext der Industrialisierung aufkam, müssen bei der heutigen Formulierung der Frage auch postkoloniale, intersektionale und feministische Ansätze berücksichtigt werden. Dabei ist auch relevant aus welcher Perspektive diese gestellt wird.
Schlag­wörter

Abstract

Die Sitzungsleiter setzen die “soziale Frage” ins Zentrum ihrer Diskussion. Obwohl soziale Ungleichheiten im Zentrum der Sozialen Frage stehen, existieren damals und heute viele Vektoren der Ungleichheit, die nicht von diesem Konzept abgedeckt werden. Die Komplexität des Sozialen scheint uns daran zu hindern, eine eindeutige Fragestellung zur sozialen Ungleichheit zu formulieren, da viele Fragen auftauchen, die soziale Ungleichheiten ansprechen, wie zum Beispiel der Gender-Pay-Gap, aufkeimender Populismus in der Gesellschaft oder die Machtverhältnisse zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden.

Um die “soziale Frage” in der heutigen Zeit zu formulieren, ist es wichtig, ihren historischen Gegenstand genauer zu betrachten, zu überlegen, wie sich dieser Gegenstand verändert hat, und zu prüfen, inwiefern er heute angemessen dargestellt wird oder ob er sich verändert hat. Ziel des Vortrags ist es, den historischen Verlauf der “sozialen Frage” zu betrachten und dabei auf die beteiligten Akteure, Perspektiven, Zeiträume und räumlichen Phänomene einzugehen, um die inhaltliche Entwicklung der “sozialen Frage” offenzulegen.

Die “soziale Frage” war im 19. Jahrhundert Gegenstand politischer Debatten. Die Arbeiterklasse organisierte sich, um gegen Ungleichheiten zu kämpfen und forderte bessere Arbeitsbedingungen. Wichtige Errungenschaften dieser politischen Bewegungen sind heute zentral für unsere Idee einer funktionierenden Demokratie. Allerdings übersah sie wichtige Aspekte, wie prekäre Lebensbedingungen bestimmter Gruppen. So wurde die Frage ursprünglich im Kontext der europäischen Industrialisierung diskutiert und war daher in ihrem Wesen eurozentrisch. Hinzu kam, dass Frauen und Einwanderer oft nicht berücksichtigt wurden. Heute muss die “soziale Frage” auch solche Aspekte berücksichtigen und die Sozialgeographie leistet einen zentralen Beitrag, nicht nur die eurozentristische Perspektive zu überwinden, sondern auch die „Soziale Frage“ raumsensible zu stellen. Wie die soziale Frage heute gestellt wird, ist im Grunde bereits Bestandteil einer eigenen „Sozialen Frage“. D.h. es geht nicht nur um die Frage, wie die einzelnen Forderungen nach Gerechtigkeit gegeneinander austariert werden, sondern auch, wer überhaupt Forderungen stellen kann.

In der Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts beschränken sich prekäre Lebensbedingungen nicht mehr nur auf die “unteren” Klassen. Postkoloniale, intersektionale und feministische Ansätze haben verdeutlicht, dass soziale Normen über Geschlecht und race in die “soziale Frage” des 21. Jahrhunderts eingebunden sein müssen. Geographische Konzepte unterstützen das Unterfangen, in dem sie sich der Räumlichkeit sozialer Ungleichheiten annimmt, Beziehungen sozialer Ungleichheiten auf verschiedene Skalen untersucht und damit Prozesse der Demokratisierung voranbringt.