Die »Kreative Klasse« in ländlichen Räumen? Einige Einblicke in das soziokulturelle Konfliktpotential der ‚neuen Stadtflucht'
Abstract
»Kreativität« bzw. kreatives Arbeiten galt als urbanes Phänomen, zumindest wenn man sich die Debatten seit Landry/Bianchini (1995) und R. Florida (2002) vergegenwärtigt, die einen wichtigen Trend entdeckten und teils auch mit etablierten. Mancherorts ist er gar zu einer politisch-planerischen Norm geworden: Städte sollen keine Krisenorte mehr sein, sondern das Zukunftsversprechen einer sich globalisierenden und damit urbanisierenden Wissensgesellschaft. Schaute man seit den 1970er Jahren auf deindustrialisierte, kaputtgesparte Städte wie New York oder London, so drehte sich das Blatt mit diesem Diskurs und mit dem was er thematisierte: eine junge, aufstrebende, gut ausgebildete Elite der Wissensarbeiter hatte nun (große) Städte und ihre urbane Kultur als Bühne für ihre Lebens- und Arbeitsstile entdeckt. In der Folge wuchsen Städte diskursiv zum Zentrum aller Modernisierungs- und Veränderungssemantiken westlicher Gesellschaften heran (Demographie, Migration, Nachhaltigkeit und eben vor allem Kreativität).
Die Corona-Pandemie startete nun eine Bewegung in die gegensätzliche Richtung: Städte wurden enge, kontrollierte und abweisende Environments, die sich ganz und gar »unkreativ« auswirkten, da dies die soziokulturellen Lebensadern der Stadtgesellschaft abschnitt: urbanen, spontanen Austausch und ‚buntes‘ Miteinander. Auch konnte die Digitalisierung bestimmter Teile der Arbeitswelt dies nicht wirklich ausgleichen, zu deutlich wurden die Defizite digitaler Vernetzung im Hinblick auf Realwelterfahrungen des anderen (Schütz), Netzwerken (Granovetter, Glückler et al.) oder der Spontanität (Lefebvre, Zizek u.a.) der - auch beruflich nutzbaren - Kontakte.
Dies hofft nun im Gefolge dieser Krisenerfahrung eine neue Bewegung auf dem Land realisieren zu können, die sich z.B. Coworkland oder German Coworking Federation nennt. Sie möchte urbanen Lebenstil mit ländlich-aufgeräumter Atmosphäre verbinden, um der Enge und den gestiegenen Kosten der Stadt zu entkommen. Sie vereinen damit gewissermaßen das beste aus zwei Welten: kreatives, selbständiges und modernes (digitales) Arbeiten in einem ‚befreienden’ statt beengtem Umfeld, das viel Platz, Naturerfahrung und vor allem günstige Mieten für Co-Working verspricht.
Allerdings stoßen sie dort auf bereits etablierte und erfahrene Anwohner, die mit diesem Anspruch und Lebensstil nicht immer konform gehen, insbesondere, wenn sich die neuen digitalen Nomaden als Modernisierer eines angeblich zurückgebliebenen Landes stilisieren. Der clash of habitus (Simmel, Bourdieu) scheint aber unausweichlich, da beide Gruppen schlicht unterschiedlich sozialisiert wurden: hie die urbane Avantgarde, die sich auch als solche inszeniert, dort Menschen, die nicht selten absichtlich weit weg von solchen städtischen Phänomenen leben. Am Beispiel des Fichtelgebirges und ähnlichen Orten der ländlichen Transformation möchte ich solche Thesen vorstellen und ihr Konfliktpotential wie auch mögliche neue Modernisierungspfade diskutieren.