Die Rolle des Utopischen Denkens in der geographischen Bildung
Abstract
Aktuelle Gegenwartsdiagnosen verweisen auf „multiple Krisen“ (BRAND 2021, 227). Junge Heranwachsende befinden sich in einem ambivalenten Verhältnis zur Zukunft – zwischen dystopischen Zukunftsvorstellungen, Ohnmacht, aber auch politischem (Klima‑) Aktivismus (CALMBACH et al. 2020, 567). Die DEUTSCHE GESELLSCHAFT FÜR GEOGRAPHIE (2020) spricht von auftretenden „Blockaden“, die ein situationsadäquates Handeln von Schüler*innen verhindern.
Im Kontext der Schulbildung fungieren Bildung für nachhaltige Entwicklung und Futures Literacy bereits als interdisziplinäre Kompetenzmodelle, die eine Handlungsorientierung bei jungen Heranwachsenden erzielen sollen. Aber auch die geographische Schulbildung greift durch curriculare Verankerungen eine gesellschaftliche Krisenbetrachtung lösungsorientierten Charakters auf. Schüler*innen sollen mit Hilfe von Handlungskompetenzen zu nachhaltigen Handlungen motiviert werden, jedoch wird eine Diskrepanz zwischen (Problem‑) Bewusstsein und Handlungsfähigkeit diagnostiziert (ENGELHARD 2020, 71).
Als möglicher Lösungsansatz der „Blockaden“ wird in diesem Beitrag der DKG ’23 - Lightning Session ein Plädoyer für die Stärkung des Utopischen Denkens in der geographischen Bildung vorgestellt. Die Betrachtung von Utopien ermöglicht es, die negative Gegenwart zu transzendieren und eine bessere Zukunft antizipieren zu können. Dieser Prozess initiiert Handlungen in der Gegenwart (LEVITAS 2017, 3). Utopien – im Spannungsfeld zwischen Realität und Fiktion – eröffnen einen kritisch-kreativen Prozess. Sie stärken das Denken und die Vorstellungskraft alternativer Zukunftsentwürfe. Das „plurale Modell des Utopischen“ (HARTEN 2010) versteht Utopien dabei nicht mehr als große, geschlossene Gesellschaftsentwürfe, sondern als vielfältiges, offenes Konzept. Damit eröffnet sich ein Spektrum an bildungstheoretischen Implementationen. Im Sinne einer kritischen Gegenwartsanalyse lassen sich einerseits gesellschaftliche Probleme zu identifizieren, aber auch Antworten auf diese Probleme durch Vorstellungen eines alternativen Lebens oder einer alternativen Gesellschaft sichtbar zu machen. Andererseits und besonders dadurch, dass Utopien erfahrbar werden, eröffnet sich ein Möglichkeitsraum für das Denken, aber auch Gestalten vielfältiger alternativer Zukunftsentwürfe:
Die Erfahrbarkeit von Utopien als konkrete, materialisierte Orte bricht mit dem „Realisierungsdogma“ und schafft „gedankliche Widerlager“, die einen Einstellungswandel initiieren zu können (WRIGHT 2017, 63-75). Dieser gedankliche Prozess, der zunächst auf Wünschen und Hoffnungen alternativer Zukunftsvorstellungen beruht, kann durch die Existenz und Erkundung solcher „realer Utopien“ (WRIGHT 2017) in Handlungen von Schüler*innen überführt werden. So wird die kritisch fachliche Analyse von aktuellen Problemlagen um die Dimension der gedanklichen Öffnung ergänzt¸ mit dem Ziel, der Diskrepanz zwischen (Problem‑) Bewusstsein und Handlung entgegenzuwirken.