Die Rückkehr des Raumes: Die Corona-Krise als Ausgangspunkt für die Neujustierung humangeographischer Fragestellungen?
Abstract
Man sagt sich: in der Not ist die Hoffnung am größten. Und erst in der Ferne bemerke man, wie wichtig Heimat werden kann. Was solche Wahrheiten jenseits ihrer poetischen Qualitäten eint, ist die dialektische Denkfigur, daß erst der Verlust einen Mangel erzeugt, von dem man nicht wußte, daß er einen strukturiert (Lacan). Dieses Bemerken macht ihn quasi sichtbar als das Fehlen einer vormals als selbstverständlich aufgefaßten Struktur. So passiert es auch mit dem Raum bzw. dem Räumlichen jener Tage , dessen Abwesenheit und diskursive Abschreibung in der Disziplin Humangeographie niemanden spürbar bewegt hat, bis er nun tatsächlich ‚weg’ war: als der Bruch / rupture (Zizek) in der Anwesenheiten der Anderen, wie ihn die Corona-Krise in bisher nicht gekanntem Ausmaß erzwungen hat. Es wurde quasi als krisenhafte Erfahrung bewußt, wie sehr unsere vermeintlich digitale Wissensgesellschaft in ihren basalen Strukturen nicht symbol- oder zeichenhaft, sondern materiell und leiblich und damit räumlich funktioniert. Offengelegt wurde damit auch das Verdrängte der Geographie, nämlich der Raum als materielle Größe, mit dem zu rechnen ist. Wurde er seit zwei Dezennien im Zuge eines reichlich verspätet eingetroffenen linguistic turn diskursiviert, versprachlicht und symbolisiert, so zeigt(e) die Krise der Abwesenheit des leiblich spürbaren Mitmenschen, der Bewegungseinschränkung, der sozialen Kontrolle, daß kaum eine der Thesen postmoderner Provenienz Bestand hat: als Verlust wird nicht die verlorene Signifikation des Anderen, nicht seine fehlende Anrufung noch seine diskursive unterbliebene Zuschreibung erfahren, sondern die räumliche Abwesenheit anderer, der Verlust leiblich spürbarer Du-Erfahrungen, die Kasernierung des Körpers in den Wohnungen, und damit die verlorene Ko-Präsenz als sozialräumliche Keimzelle jeglicher Sozialität. Nur mit einer Hinwendung zu den soziophysischen Grundlagen der räumlichen Erfahrung, zu der der (soziale) Andere wie auch die materielle Umwelt gehört, ließe sich diese Dimension für das Fach wiederentdecken. Der Beitrag diskutiert vor diesem Problemhorizont die Möglichkeiten phänomenologischer, anthropologischer und subjektorientierter Forschung dazu.