Ein Relikt aus alten Zeiten? Temporäre Formierung von Gemeinschaft in Kleingärten

Vortrag
Sitzungstermin
Mittwoch (20. September 2023), 09:00–10:30
Sitzungsraum
HZ 12
Autor*innen
Nina Schuster (TU Dortmund)
Kurz­be­schreib­ung
Der Vortrag diskutiert, inwiefern Gartenvereine in kontaktbeschränkten Zeiten aufgrund temporärer und z. T. widerständiger Praktiken der Gemeinschaftsbildung gerade für Familien mit Doppelt- und Dreifachbelastung im engen Homeoffice und Homeschooling entlastend gewirkt haben, was auf ein solidarisches Potenzial dieser Grünräume hindeuten könnte.
Schlag­wörter

Abstract

Eine altmodisch erscheinende Form von Gemeinschaft in Städten sind Kleingärten. Traditionell als Vereine organisiert, erheben sie auch heute noch den Anspruch, als Gemeinschaften zu fungieren.

In meinem dreijährigen ethnographischen DFG-Projekt habe ich erforscht, inwiefern Kleingärten auch heute Orte der Differenzaushandlung sind. Mich hat u. a. interessiert, welche aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen den Gemeinschaftsanspruch brüchig werden lassen und inwiefern Vereine in ihren Praktiken neue gemeinschaftliche und solidarische Formate entwickeln. Meine Forschung ging davon aus, dass Gartenvereine in deutschen Großstädten im Wandel sind und dort unterschiedliche Lebensentwürfe in Kontakt kommen und womöglich kollidieren: Mehr Jüngere und Familien, mehr Akademiker*innen, Menschen mit Zuwanderungsgeschichte und Menschen, die in nicht-heterosexuellen Beziehungen leben, pachten Gärten und gestalten die Vereine mit. Die Vereine verfügen eigenständig über ein klar umgrenztes (in manchen Fällen stadtentwicklungs¬politisch umkämpftes) Territorium, das z. T. öffentlich zugänglich ist, wie die gemeinschaftlich gepflegten Bereiche von Wegen, Spielplätzen und Vereinshäusern. Anders als die privat genutzten Parzellen der Mitglieder bieten diese Bereiche Berührungspunkte im Vereinsleben, z. B. für Feste, Sonntagsfrühschoppen und Kinderangebote als temporäre Formen der Vergemeinschaftung, aber auch für Kontakt mit Besucher*innen.

In meinem Vortrag diskutiere ich an Beispielen, inwiefern das Konzept der „Gemeinschaft“ in Kleingartenvereinen aktuell angerufen wird. Handelt es sich um ein Relikt aus vergangenen Zeiten? Wo verlaufen die Linien zwischen einer nostalgisch aufgeladenen Vergangenheit, in der „man sich noch gegenseitig geholfen hat“, und den heutigen Formen des Gemeinschaftslebens in Vereinen mit ihren diverseren und individualisierten Mitgliedern? Sind damit auch solidarische Praktiken verbunden? Ich lenke den Blick auf die Krisensituation der Covid-19-Pandemie, in der ein Gartenverein neu Rekurs auf ein Gemeinschaftsideal nahm. Dem Anlass entsprechend, füllte er es mit Leben – in den ersten Monaten der Pandemie durch Unterstützungsangebote an ältere Mitglieder und das Tolerieren der widerständigen Vergemeinschaftung der Kinder auf Wegen und Parzellen trotz Verboten und Spielplatzsperrung. Später entwickelten die Mitglieder ein mobiles Sommerfestkonzept, das trotz Abstandsgebots Begegnungen ermöglichte und damit widerständige Elemente beinhaltete. Auch die ehrenamtliche und solidarische Organisierung eines mehrwöchigen Kinder-Sommerferienprogramms, nicht nur für die Kinder des Vereins, gehörte dazu. Ich diskutiere, inwiefern Gartenvereine in kontaktbeschränkten Zeiten aufgrund temporärer und z. T. widerständiger Praktiken der Gemeinschaftsbildung gerade für Familien mit Doppelt- und Dreifachbelastung im engen Homeoffice und Homeschooling entlastend gewirkt haben, was auf ein solidarisches Potenzial dieser Grünräume hindeuten könnte.