Erreichbarkeitsmodelle jenseits des Durchschnittsmenschen: Multimodale und multiperspektivische Reisezeitmatrizen für eine alternde urbane Bevölkerung
Abstract
In der zeitgenössischen Stadtplanung hat sich Accessibility, also die Erreichbarkeit zentraler und alltäglicher städtischer Funktionen, als wichtiger Indikator der urbanen Mobilität etabliert (Handy, 2020). Als Kerninstrument zur Erfassung und Bewertung von Accessibility auf gesamtstädtischem Maßstab dienen dabei Reisezeitmatrizen (Tenkanen & Toivonen, 2020), räumliche Datensätze, die die Mobilitätskosten zwischen einer Vielzahl von Punkten beschreiben, und sich meist auf Reisezeit beziehen, aber auch Umweltemissionen, das Reiseerlebnis oder monetäre Kosten beinhalten können. Effiziente und flexible Routingalgorithmen und moderne Recheninfrastruktur erlauben hierbei die gleichzeitige Berechnung für verschiedene Verkehrsträger (Salonen & Toivonen, 2013) und mit dynamischem Zeitbezug (Järv et al., 2018).
Ein Faktor jedoch scheint in bisherigen Modellen unberücksichtigt: die Unterschiede im persönlichen Mobilitätsverhalten. Allzuoft sind Modelle implizit am ‘Durchschnittsmenschen’ orientiert, und individuelle Präferenzen und Einschränkungen bleiben außen vor. Alter ist eine wichtige Proxyvariable für das unterschiedliche Erleben urbaner Mobilität, die Planer*innen zumeist auch recht kleinräumig zur Verfügung steht: junge Erwachsene haben oft kein Auto zur Verfügung, sind aber im Durchschnitt körperlich fitter; ältere Menschen und auch Familien mit Kleinkindern haben höhere Ansprüche an Barrierefreiheit, und Parkbänke, Spielplätze oder öffentliche Toiletten spielen eine größere Rolle entlang ihrer täglichen Wege (Delgado-Enales et al., 2022).
In der vorliegenden Studie stellen wir eine multimodale Reisezeitmatrix für Helsinki, Finnland, und eine quelloffene Modellierungslösung vor, die auf Basis frei verfügbarer Daten die unterschiedlichen Voraussetzungen, Präferenzen und Einschränkungen verschiedener Altersgruppen berücksichtigen. Unserem Modell liegen Erkenntnisse eines umfangreichen Bürger*innenbeteiligungsprozesses mit Stadtplaner*innen und Stadtbewohner*innen unterschiedlichen Alters zu Grunde.
Mit den Ergebnissen unserer Studie und der frei verfügbarem Software tragen wir zu einer besseren Berücksichtigung individueller Lebenswelten in der Mobilitäts- und Stadtplanung bei und unterstützen angewandte wie akademische Raumplaner*innen auf dem Weg zu einer gerechteren und nachhaltigeren urbanen Zukunft.
Delgado-Enales et al., 2022: Improving the Urban Accessibility of Older Pedestrians. DOI:10.1109/CEC55065.2022.9870432.
Handy, 2020: Is accessibility an idea whose time has finally come? DOI:10.1016/j.trd.2020.102319
Järv et al. 2018: Dynamic cities: Location-based accessibility modelling as a function of time. DOI:10.1016/j.apgeog.2018.04.009
Salonen & Toivonen, 2013: Modelling travel time in urban networks: comparable measures for private car and public transport. DOI:10.1016/j.jtrangeo.2013.06.011
Tenkanen & Toivonen, 2020: Longitudinal spatial data on travel times and distances by different travel modes. DOI:10.1038/s41597-020-0413-y