Fahrgeldfrei und sorgenfrei? Auswirkungen der Fahpreisgestaltung auf alltägliche Betreuungsmobilität
Abstract
Im Jahr 2013 hob die estnische Hauptstadt Tallinn die Tarife für den öffentlichen Nahverkehr für gemeldete Einwohner*innen auf. Motiviert durch die wachsende Unzufriedenheit der Nutzer*innen wurde die Politik des fahrgeldfreien ÖPNVs als Teil einer lokalen Wahlkampagne umgesetzt, die eine nachhaltigere und sozialere Stadtentwicklung versprach. Aufgrund der Bevölkerungsgröße und des umfassenden kostenlosen Angebots auf allen städtischen Bus‑, Zug- und Straßenbahnlinien bot die Stadt zu diesem Zeitpunkt das weltweit größte Fallbeispiel und zog die Aufmerksamkeit internationaler Planungsagenturen und Medien auf sich (Kębłowski, et al. 2019). Ein leichter Anstieg der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel wurde insbesondere in wenig motorisierten Vierteln und Haushalten mit niedrigerem sozioökonomischen Status sowie unter älteren und jüngeren Bevölkerungsgruppen verzeichnet (Cats, et al., 2017). Das Interesse der wissenschaftlichen Forschung und der lokalen Politik an den sozialen Auswirkungen dieser Maßnahmen blieb seither jedoch aus.
Als Beitrag zur Diskussion über Mobilitätsarmut möchte ich in der geplanten Konferenzsitzung Ergebnisse aus meiner Dissertationsforschung zu den Auswirkungen von Fahrpreisen auf die Alltagsmobilität von Menschen, die auf ÖPNV angewiesen sind, vorstellen. In einer qualitativen Studie, füllten 22 ein siebentägiges Mobilitätstagebuch aus und nahmen jeweils vor und nach der Studie an einem halbstrukturierten Interview teil. Für die Studie stützte ich mich auf Ansätze des New Mobilities Paradigm (Sheller und Urry 2006) das sich von der vorherrschenden quantitativen Analyse des Reiseverhaltens und der Optimierung der Netzgestaltung und -effizienz wegbewegt und sich auf die mehrstufigen Verknüpfungen sowie die körperlichen und individuellen Erfahrungen alltäglicher Mobilitäten und den Einfluss systemischer Ungleichheiten konzentriert. Mit besonderem Interesse an geschlechtsspezifischen Mobilitätsmustern wurden die Teilnehmenden anhand des Konzepts der Pflegemobilitäten (engl. Care Mobilities; Sánchez de Madariaga 2013) rekrutiert. So waren alle Teilehnmende auf den ÖPNV angewiesen, wenn es um Fahrten zur Haushalts- und Betreuungsarbeiten ging, wie z. B. Besuche oder Begleitung von Dritten und Kindern, Einkäufe und organisatorische oder administrative Besorgungen zur Aufrechterhaltung eines Haushalts.
Die Studie bietet wertvolle Einblicke in die Art und Weise, wie Personen, die auf ÖPNV angewiesen sind, alltägliche Betreuungsaufgaben erledigen und auf physische Barrieren beim Zugang zu Haltestellen und Verkehrsmitteln stoßen, insbesondere für Reisende im Rollstuhl, mit Kinderwagen oder beim Einkaufen. Darüber hinaus beleuchtet die Studie die Vorteile eines finanziell erschwinglichen ÖPNVs: Da für die Nutzung des öffentlichen Verkehrs keine Kosten anfallen, empfanden die Teilnehmenden erleichterten Zugang zu städtischen Dienstleistungen und waren ermutigt gelegentlich auf alternative Mobilitätsdienste auszuweichen.