Freie Grundschulwahl in NRW: Katalysator für die Entstehung von Schulsegregation oder Chance für bildungsbenachteiligte Kinder?

Vortrag
Sitzungstermin
Donnerstag (21. September 2023), 18:15–19:45
Sitzungsraum
HZ 12
Autor*innen
Andreas Wettlaufer (Ruhr-Universität Bochum)
Kurz­be­schreib­ung
Der Vortrag stellt auf Basis eines Mixed-Methods Ansatzes beispielhaft dar, wie es im Kontext der Ökonomisierung von Bildungssystemen durch die Einführung der freien Grundschulwahl zur Entstehung von Schulsegregation kommt.

Abstract

Grundschulsegregation ist eine zentrale bildungspolitische Herausforderung. Dass eine ausgeprägte Ungleichverteilung von Schüler*innen hinsichtlich sozioökonomischer und ethnisch-kultureller Merkmale sich negativ auf die Bildungsgerechtigkeit auswirkt, gilt längst als belegt (Musset 2012). Denn an Einrichtungen mit hohen Anteilen an bildungsbenachteiligten Kindern, also solchen aus Familien mit niedrigem Sozialstatus oder mit Migrationshintergrund, fallen die Lernbedingungen durchschnittlich schlechter aus (Nieuwenhuis, Kleinepier und van Ham 2021). Das setzt vor allem ihre eigenen ohnehin geringeren Bildungschancen weiter herab und führt so mindestens zur Reproduktion bereits bestehender sozialer Ungleichheiten (Schäfer u. a. 2018).

Im Zuge der weltweiten Ökonomisierung von Bildungssystemen, wurde den Eltern nachfrageseitig vielerorts die Möglichkeit gegeben, bereits die Grundschule für ihr Kind frei auszuwählen, wodurch öffentliche Schulen sich angebotsseitig in Konkurrenz zueinander wiederfinden. In entsprechenden Bildungssystemen fällt die Schulsegregation oft besonders stark aus (Wilson und Bridge 2019). Zum Schuljahr 2008/09 wurde auch in Nordrhein-Westfalen (NRW) die freie Grundschulwahl eingeführt. Daher stellt sich die Frage, ob sich die Reform auch hier verstärkend auf die Schulsegregation auswirkt und wenn ja, welche sozialen Mechanismen genau zu diesem Phänomen führen. Um das zu überprüfen, wird auf Daten aus einem laufenden DFG-Projekt zur Entstehung von Grundschulsegregation zurückgegriffen. Das Mixed-Methods-Design umfasst sowohl quantitative Methoden, in Form der statistischen Auswertung von Schulverwaltungsdaten einer Großstadt in NRW und einer Online-Befragung unter den Eltern aller Erst- und Zweitklässler*innen eines ausgewählten Stadtteils, als auch qualitative Interviews mit einem Teil dieser Eltern und weiteren Stakeholdern. Im Rahmen des Vortrags wird zunächst der Effekt der Einführung der freien Grundschulwahl auf die Schulsegregation quantifiziert. Im Anschluss werden verschiedene soziale Mechanismen dargestellt, die zur Entstehung von Schulsegregation beitragen. Dazu zählen u. a. soziale Unterschiede hinsichtlich des Schulwahlverhaltens der Eltern, die Profilbildung der Schulen sowie die Durchsetzung übergeordnete Regelungen durch die Schulverwaltungen.

Literatur

Musset, Pauline. 2012. School Choice and Equity: Current Policies in OECD Countries and a Literature Review. OECD Education Working Papers.

Nieuwenhuis, Jaap, Tom Kleinepier und Maarten van Ham. 2021. The Role of Exposure to Neighborhood and School Poverty in Understanding Educational Attainment. Journal of Youth and Adolescence 50, Nr. 5: 872–892.

Schäfer, Andreas, Johanna Börsch-Supan, Sebastian Gallander und Matthias Rumpf. 2018. Erfolgsfaktor Resilienz. Düsseldorf: Vodafone Stiftung Deutschland gGmbH.

Wilson, Deborah und Gary Bridge. 2019. School choice and the city: Geographies of allocation and segregation. Urban Studies 56, Nr. 15: 3198–3215.