Für eine Sozialgeographie der Depropertisierung

Vortrag
Sitzungstermin
Mittwoch (20. September 2023), 11:00–12:30
Sitzungsraum
HZ 5
Autor*innen
Ferdinand Stenglein (Universität Jena)
Kurz­be­schreib­ung
Eine Sozialgeographie der Depropertisierung stellt die geo-soziale Frage als Kritik der Eigentumsförmigkeit der modernen Gesellschaft. Ihre normative Hoffnung ist es dazu beizutragen, die gewaltvolle Relation des modernen Eigentums zu überwinden.

Abstract

Im Unterschied zum Idealismus neo-/vital-materialistischer Ansätze, welche ungeeignet sind die Verhältnisse der Europäischen Moderne adäquat zu kritisieren oder gar zu überwinden (z. B. ‚Parlament der Dinge‘), setzt eine Kritische Theorie der Gesellschaft an den konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen und ihren Institutionen an. Jüngeren Arbeiten dieser Tradition folgend, kann insbesondere eine Institution und die mit ihr einhergehende Vergesellschaftungsform als zentral für die gewaltsame Relation der Gegenwart und ihre Geographien der Naturbeherrschung angesehen werden: Das moderne Eigentum und die eigentumsförmige Sachherrschaft (von Redecker 2020) (aber auch Bhandar 2018, Loick 2016).

Ausgehend von wiederkehrenden Analysen der globalen Ungleichverteilung von Vermögen (z. B. Oxfam-Bericht), wird die geo-soziale Frage oft als Verteilungsfrage formuliert. Mit der Etablierung und globalen Ausbreitung der absoluten Sachherrschaft des modernen Eigentums wurde und wird aber nicht nur eine Umverteilung der Verfügensmöglichkeiten bewirkt (‚primäre Akkumulation’), sondern ein neues soziales Verhältnis zur Welt etabliert. Der moderne Propertisierungsprozess erzeugt(e) parzellierte Geographien, eine Welt verräumlichter Verdinglichung, welche nicht nur auf Sachen beschränkt bleibt, sondern soziale Beziehungen und Selbstverhältnisse umfassend und bis in das Intimste durchdringt und so den Zugriff auf das Lebendige der Welt vor jeder Idee lebendiger Materie materiell bestimmt.

Trotz der Relevanz der politischen Ökologie der modernen Eigentumsform, wurden die qualitativen Dimensionen und die sozialen Geographien des Eigentums in der Geographie kaum fokussiert (ausgenommen Blomley, z. B. 2007). Im Zentrum einer Kritischen Sozialgeographie des Eigentums steht die Kritik der Eigentumsförmigkeit der modernen Gesellschaft und ihrer Geographien. Im Anschluss an Blomley fokussiert sie analytisch auf Geographien der Propertisierung in ihrer Geschichtlichkeit (z. B. Zusammenhang von Kartographie und Eigentumsform) und die Remodalisierung von Verfügensregimen in der Gegenwart (z. B. durch Algorithmen). Normativ ist sie besonders interessiert an Geographien der Depropertisierung, wie Praktiken der Ko-Elternschaft und Polyamorie, Räumen des Commonings oder des Besetzens. Ihr hoffnungsvolles Moment ist es, zur Emergenz von Geographien beizutragen, die über den verdinglichten Charakter eigentumsförmiger Weltbeziehungen hinausweisen und Weltverhältnisse zu befördern, in denen das wilde und nicht einhegbare Lebendige geborgen ist.

Bhandar, Brenna. 2018. Colonial Lives of Property: Law, Land, and Racial Regimes of Ownership. Durham: Duke University Press.

Blomley, Nicholas. 2007. Making Private Property: Enclosure, Common Right and the Work of Hedges. Rural History 18(1), 1–21.

Loick, Daniel. 2016. Der Missbrauch des Eigentums. Berlin: August.

Redecker, Eva von. 2020. Revolution für das Leben: Philosophie der neuen Protestformen. 3. Aufl. Frankfurt a. M.: Fischer