Jammern auf hohem Niveau? Erreichbarkeit von Infrastrukturen der Grundversorgung in Deutschland

Vortrag
Sitzungstermin
Donnerstag (21. September 2023), 11:00–12:30
Sitzungsraum
HZ 15
Autor*innen
Stefan Neumeier (Thünen Institut)
Kurz­be­schreib­ung
Der Laden hat zugemacht. Zur Schule ist es weit. So das Bild von ländlichen Räumen in Medien und Politik. Der Vortrag revidiert dieses und zeigt, dass mangelnde Infrastrukturerreichbarkeit weniger ein räumlich-strukturelles Problem ist, sondern von der individuellen Mobilität der Haushalte abhängt.

Abstract

Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse ist Politikziel in Deutschland. Dazu gehört auch die wohnortnahe Erreichbarkeit von Infrastrukturen. Interagierende sozioökonomische und demographische Prozesse bedingen eine räumliche Konzentration von Infrastrukturen. Vor diesem Hintergrund behaupten Politik und Medien, dass in ruralen Räumen die Versorgung nicht mehr gewährleistet sei, obwohl belastbare Daten fehlen, die das bestätigen.

Wir haben für Pkw, Fahrrad, Fuß, ÖPNV ein Erreichbarkeitsmodell entwickelt, mit dem für die Makroebene Deutschland analysiert werden kann, wie es in verschiedenen Raumtypen um die Grundversorg der Haushalte bestellt ist, um im Politikberatungskontext Handlungsbedarfe zu identifizieren. Es ist nicht sensitiv für raumspezifische oder individuelle Faktoren. Dies bleibt Modellen auf der Mikroebene vorbehalten, die über eine Einschätzung der Grundversorg hinausgehen und v.a. im konkreten Planungskontext angewandt werden.

Kern des Modells ist ein 250m x 250m-Grid mit Bevölkerungsdaten das über Deutschland gelegt wird. Jeder Zentroid einer bewohnten Zelle repräsentiert die Haushalte in dieser Zelle. Pro Infrastruktur und Verkehrsträger wird dann für jeden Zentroid über die Verkehrsnetze und -profile der OpenStreetMap sowie Fahrplandaten des ÖPNV die Wegezeit zum nächsten Standort zu bestimmen.

Die untersuchten Infrastrukturen lassen sich in die drei Kategorien markt-kontrolliert, halb-staatlich, staatlich einteilen. Alle Infrastrukturen zeigen in urbanen und ruralen Regionen ein ähnliches, mehr oder minder dichtes Standortnetz. Markt-kontrollierte Einrichtungen orientieren sich am Kostenoptimum und haben alle ähnlich gute Erreichbarkeiten mit vglw. kurzen Wegezeiten. Halb-staatliche Einrichtungen sind an gesetzliche Vorgaben gebunden, in der Standortwahl bei Beachtung dieser aber relativ frei. Die Erreichbarkeiten ähneln denen der markt-kontrollierten, zeigen bei den Wegezeiten z.T. aber nach oben und unten geringe Abweichungen. Standorte staatlicher Einrichtungen werden von administrativen Institutionen geplant. Die Wegezeiten zu ihnen liegen i.d.R. etwas über denen der anderen Kategorien.

Für alle Infrastrukturen gilt, dass Pkw-mobile Haushalte in ruralen Räumen im Mittel nur wenige Minuten länger unterwegs sind als in urbanen, die Unterschiede sind geringer als vermutet. Auch wenn es Regionen mit am Durchschnitt gemessen eher suboptimalen Erreichbarkeiten gibt, spricht aktuell in urbanen als auch in ruralen Regionen für Pkw-mobile Menschen nichts für die Existenz eines ausgeprägten Erreichbarkeitsdefizits. Problematisch ist die Erreichbarkeit dagegen für weniger mobile rurale Haushalte v.a. wenn sie außerhalb der Zentren leben. Es zeichnet sich also ab, dass mangelnde Infrastrukturerreichbarkeit weniger ein räumlich-strukturelles Problem ist, sondern v.a. von der individuellen Mobilität der Haushalte abhängt, so dass das Postulat der per se schlechten Erreichbarkeit von Infrastrukturen in ländlichen Räumen zu revidieren ist.