Johanngeorgenstadt als verschwindende Stadt: Eine historische und geographische Mikrologie des Verlusts

Vortrag
Sitzungstermin
Donnerstag (21. September 2023), 14:30–16:00
Sitzungsraum
HZ 7
Autor*innen
Frederike Lange (Universität Jena)
Kurz­be­schreib­ung
Eine Mikrologie des Verlusts städtischer Umgebungen untersucht das situationale Zusammenspiel von historischen, geographischen, kulturellen und gesellschaftlichen Faktoren auf engem Raum. Sie wird im Forschungsprojekt vor dem Hintergrund von Bergbaufolgelandschaften operationalisiert.

Abstract

Die Standorte der ehemaligen Wismut AG sind bis heute neuralgische Punkte im regionalgeschichtlichen Gedächtnis Ostdeutschlands. Unter der Maxime „Erz für den Frieden“ wurde dort Uran für den Bau sowjetischer Atomwaffen abgebaut. Die Förderstätten machten das ländliche Erzgebirge somit zum Schauplatz des Weltgeschehens im Kampf der politischen Systeme, sie stehen für die rücksichtslose Ausbeutung der Natur, Krankheit und Tod zehntausender Bergarbeiter, aber auch das soziale Prestige, das ihrer Tätigkeit in der Gesellschaft der DDR innewohnte und die Entwertung von Arbeitsbiografien und Lebensleistungen der Kumpel nach dem Mauerfall.

Johanngeorgenstadt war ab 1946 eines der Zentren des Uranbergbaus und erlebte in mehrfacher Hinsicht Verluste durch grundlegende Änderungen der städtischen Strukturen: Ende der 50er Jahre wurde der historische Stadtkern wegen des im Untergrund wuchernden Bergbaus abgerissen, ab den 1990er Jahren setzte der Rückbau der DDR-Neustadt ein. Gesichtsgebungsversuche nach dem Abriss blieben erfolglos, die Stadt wirkt zergliedert, bleibt ein Provisorium.

Das Projekt „Johanngeorgenstadt als verschwindende Stadt. Eine historische und geographische Mikrologie des Verlusts“ bewegt sich an der Schnittstelle von DDR Historie und aktuellen geographischen Perspektivierungen komplexer Produktionen von Räumlichkeit. Was macht Erinnerung mit jenen die sich erinnern? Welche Auswirkungen hat der Verlust physische-materieller Orte auf affektive Raumproduktionen? Als historische Quellen dienen Texte, ebenso wie Artefakte und Topographien diese werden verschränkt mit qualitativen Interviewmethoden aus dem Spektrum der ‚in situ‘ Methodologie (Thibaud 2001; Kusenbach 2003),der ‚affektualen‘ Methodologie (Militz et al. 2020; Pink 2009), sowie gruppenbezogener Methodiken (Burkart/Kleining 2010). Um Mikrogeographien des Verlustes zu erfassen, fragt das Projekt nach der Rolle der Praktiken von doing loss (Reckwitz 2013) bei der Gestaltung von Lebenswelten und ihrer Materialitäten. Der Vortrag möchte in einem Werkstattbericht erste Ergebnisse der Feldarbeit vorstellen, sowie Möglichkeiten zur Weiterentwicklung der angewandten Methodik diskutieren.