[ABGESAGT] Krieg nach innen: Zur Transformation russischer Regionen im Ukraine-Krieg

Vortrag
Sitzungstermin
Donnerstag (21. September 2023), 18:15–19:45
Sitzungsraum
HZ 3
Autor*innen
Helmut Klüter (Greifswald)
Kurz­be­schreib­ung
Vor dem Hintergrund des Angriffs auf die Ukraine inszeniert das russische Regime zusätzlich einen „Krieg nach innen“, der regional sehr unterschiedlich geführt wird. Dieser Aspekt, die Nutzung neuer Kommunikations- und Informationsmöglichkeiten erfordern, dass traditionelle Konzepte zur Abgrenzung von Krieg und Frieden überarbeitet und ergänzt werden sollten.

Abstract

Aus heutiger Sicht liest sich der Artikel „War and peace: What’s the difference?“ von David Keen wie ein Märchen aus alter Zeit:

Unter den damaligen Bedingungen hatte man also Zeit und Muße, in angenehmer räumlicher Ferne über Definitionsprobleme des Krieges an sich zu philosophieren. Keen übernimmt dabei implizit das zynische Narrativ von kleinen Kriegen, die im Übrigen den großen Frieden nicht allzu sehr stören.

Inzwischen findet der große Krieg statt. Erstaunt nimmt man zur Kenntnis, dass viele von Keens Überlegungen sich in der heutigen russischen Kriegspropaganda wiederfinden. Das gilt nicht nur für die beschwichtigende Maskierung des Krieges als „spezielle Militäroperation“, sondern auch für viele Detailargumentationen. Dies ist nur eine der Facetten, des „Krieges nach innen“: Für innere Sicherheit und Justiz wurden im russischen Föderationshaushalt 2022 etwa 2,8 Billionen Rubel ausgegeben. 2023 sind für diesen Haushaltsposten 4,4 Billionen Rubel (+58%) vorgesehen. Bis 2025 soll er auf 4,3 Billionen Rubel leicht absinken. Im selben Zeitraum sind für öffentliche Verteidigungsausgaben, also für den Krieg nach außen, 2023 5 Billionen, 2024 4,7 Billionen und für 2025 4,2 Billionen Rubel eingeplant. (https://www.researchgate.net/publication/368397352_2023-01-28_Zum_Widerstand_gegen_den_Ukraine-Krieg_in_Russland_Vortrag_R_e_g_u_n_G_58, Folie 44). Nach der Haushaltsprognose wird ab 2025 der Krieg nach innen teurer als der Krieg nach außen sein. Die innerrussischen Kosten der Umstellung auf Kriegsindustrie und Kriegslogistik sind darin noch nicht enthalten. Krieg nach innen gewinnt damit qualitativ und quantitativ Dimensionen, die Keen noch gar nicht ermessen konnte.

In meinem Beitrag soll anhand der Regionalstatistik und anderer Daten dargestellt werden, wie das Regime versucht, unter weltgesellschaftlichen Kommunikations- und Wirtschaftsbedingungen bestimmte Bereiche zu isolieren, zu kontrollieren und zu kriminalisieren. Dabei geht es über das übliche Verständnis von Propaganda, Repression und Unterdrückung weit hinaus. Unter anderem greift es bewusst US-amerikanische Vorbilder wie den Foreign Agents Registration Act (FARA 1938/1966/1995/2007) und House Committee on Un-American Activities (HCUA 1938/1945, aufgelöst 1975) auf. Bisher konnte allerdings trotz des enormen Mitteleinsatzes der Widerstand der vielfältigen, teils äußerst kreativen und sich weiter diversifizierenden Anti-Kriegsbewegungen in Russland nicht gebrochen werden.