Melancholie und Nostalgie als Stimmungen und Weisen des Umgangs mit Verlusterfahrungen in zwei ehemaligen Arbeitervierteln („Doing Loss“)

Vortrag
Sitzungstermin
Donnerstag (21. September 2023), 14:30–16:00
Sitzungsraum
HZ 7
Autor*innen
Susanne Frank (TU Dortmund)
Kurz­be­schreib­ung
Der Beitrag stellt "Quartiersmelancholie" (neighborhood melancholy) und "Quartiersnostalgie" (neighborhood nostalgia) als zwei Stimmungen und Weisen vor, mit denen Arbeiter*innen auf Verlusterleben reagieren, das für sie an und in ihren Wohngebieten konkret wird („Doing Loss“).
Schlag­wörter
Melancholie, Nostalgie, Quartier, Verlust, Doing Loss

Abstract

In meinem Beitrag möchte ich “Quartiersmelancholie” (neighborhood melancholy) und “Quartiersnostalgie” (neighborhood nostalgia) als zwei zentrale Stimmungen und Weisen (moods and modes) vorstellen, mit denen Arbeiter*innen individuell und kollektiv auf Verlusterleben reagieren, das für sie an und in ihren Wohngebieten konkret wird („Doing Loss“). Damit möchte ich einen sozialpsychologisch informierten Beitrag zu der von A. Reckwitz angeregten „Soziologie des Verlusts“ leisten.

Beide Konzepte beruhen auf vergleichender empirischer Forschung in zwei ehemaligen Arbeitervierteln in Dortmund und Essen, die nach dem Ende der Schwerindustrie einen rapiden Niedergang erlebt haben. In beiden Vierteln machen alteingesessene Arbeiter*innen das persönliche und kollektive Verlustempfinden (von Status, Anerkennung, Gemeinschaft, Zugehörigkeit…) stark an der Präsenz neuer Bewohner*innen fest, an die sie die Rolle als quartiersprägende Gruppe verloren haben. Diese „Marginalisierung im eigenen Quartier“ bestätigt oder verstärkt ihr Gefühl, vom Zentrum an den Rand der Gesellschaft gedrängt worden zu sein.

Neben diesen Gemeinsamkeiten gibt es jedoch auch entscheidende Unterschiede zwischen beiden Arbeitervierteln. Diese betreffen die Art und Weise, in der die alteingesessenen Bewohner*innen den Quartierswandel wahrnehmen und verarbeiten. Ich führe diese Unterschiede auf die Bedeutung des betreffenden Viertels für die Entwicklung der jeweiligen Gesamtstadt zurück, die sich wiederum in der sozialen Stellung der neuen Nachbar*innen widerspiegelt.

In Dortmund-Hörde ist ein Leuchtturmprojekt realisiert worden, das die erfolgreiche Bewältigung des Strukturwandels von der Industrie- zur Dienstleistungsstadt symbolisieren soll. Dort sind die Neuankömmlinge statushöher als die Alteingesessenen. Bei letzteren herrscht das Gefühl von Marginalisierung durch “Überschichtung” vor.

Im Gegensatz dazu handelt es sich bei den Neuzuziehenden in Essen-Altenessen um statusniedrige, oftmals aus dem Ausland kommende, arme Zuwander*innengruppen, deren zunehmende Präsenz als Zeichen des anhaltenden Niedergangs des Stadtteils gelesen wird. Dort fühlen sich die alteingesessenen Arbeiter‘*innen durch “Unterschichtung” marginalisiert.

Meine zentrale These lautet, dass unter den Alteingesessenen in DO-Hörde ein melancholischer Modus der Wahrnehmung und Bearbeitung von Marginalisierung und Verlust dominiert, während in E-Altenessen der nostalgische Modus überwiegt. Ich verstehe Melancholie und Nostalgie als “structures of feeling“ im Sinne von Raymond Williams, also als je spezifische Artikulationen von Gefühlen, mit denen auf schmerzhaften Verlust reagiert wird, wie Angst, Wut, Bitterkeit. Die Emotionen, um die es in beiden Fällen geht, sind also recht ähnlich; sie werden aber sehr unterschiedlich „formiert“ oder „strukturiert“. Schließlich wird gezeigt, dass aus diesen unterschiedlichen Stimmungen bzw. Modi der Verlustwahrnehmung auch unterschiedliche Strategien der Bewältigung hervorgehen.