Politische Gemeinschaft für ein solidarisches europäisches Asylsystem: From the Sea to the City als Distributed Ecology of Change

Vortrag
Sitzungstermin
Mittwoch (20. September 2023), 09:00–10:30
Sitzungsraum
HZ 12
Autor*innen
Stephan Liebscher (FU Berlin)
Kurz­be­schreib­ung
Eine politische Gemeinschaft ist seit 2015 im Entstehen, die das europäische Asylsystem demokratisieren will. Am Beispiel der transnationalen Plattform From the Sea to the City rekonstruiere ich, wie räumlich verstreute, aber vernetzte Akteur*innen als Teil einer Distributed Ecology handeln.

Abstract

Der Artikel befasst sich mit der politischen Gemeinschaft, die seit dem Sommer der Migration 2015 entstanden ist, um das europäische Asylsystem zu demokratisieren. Im Kern speist sich diese aus zwei räumlichen Formen: Lokalem Ungehorsam und translokaler Vernetzung. Einerseits forderten beispielsweise Basisinitiativen kommunale Behörden dazu auf, sich durch die Erklärung ihrer Aufnahmebereitschaft Geflüchteter solidarisch zu positionieren. Andererseits haben seit 2017 Zivilgesellschaft und Kommunalregierungen ihre Bemühungen um die Schaffung transnationaler Netzwerke verstärkt, bspw. durch den Palermo Charter Prozess.

Trotz des großen Interesses der Stadt- und Netzwerkgeographie an solidarischen Initiativen und Kampagnen für ein anderes europäisches Asylsystem, fehlen Konzeptionen der räumlichen verstreut, aber vernetzten politischen Gemeinschaft. Mit meinem Beitrag argumentiere ich, dass sich die involvierten Akteur*innen aus Aktivismus, Zivilgesellschaft, Kommunal- und Europapolitik sowie Medien als Teil einer politischen Gemeinschaft auffassen, welche auf einen grundlegenden Wandel des europäischen Asylsystems abzielt. Um das Argument zu erläutern, stütze ich mich auf das Konzept der “distributed ecology” [1]. Dieses hilft einerseits zu verstehen, dass Prozesse der politischen Organisierung zwischen verstreutem lokalen Handeln und koordiniertem translokalem Handeln oszillieren. Andererseits lässt sich hervorheben, wie Akteur*innen an einer starken und wirkungsvollen Gemeinschaft arbeiten: Geleitet von der Auffassung in einer gemeinsamen Umgebung–der Ecology–zu handeln (statt das Handeln anderer als unvereinbar mit dem eigenen zu verstehen), bemühen sich die Akteur*innen um eine funktional differenzierte Arbeitsteilung (statt Unterschiede entlang von simplen Unterscheidungen von ‚radikal‘ / ‚moderat‘ hervorzuheben) und bringen die eigenen knappen Ressourcen gewinnbringend zugunsten der Ecology ein (statt um diese in einen Wettbewerb zueinander zu treten).

Am Beispiel der transnationalen Plattform From the Sea to the City (FS2C) illustriere ich das Konzept der Distributed Ecology. Anhand von Interviews, Konferenzvideos, Berichten und Social-Media-Posts rekonstruiere ich Taktiken des transnationalen zivilgesellschaftlichen Konsortiums. Insbesondere konzentriere ich mich auf eine Konferenz zur Gründung der International Alliance of Safe Harbours im Juni 2021 in Palermo. Mit dieser baute FS2C eine strategische Beziehung zu aufmüpfigen Kommunalbehörden auf. Die funktionelle Arbeitsteilung sieht vor, dass aufnahmebereite Bürgermeister*innen als moderate Stimme die Appelle der Zivilgesellschaft zur Demokratisierung des europäischen Asylsystems ergänzen. Auch die Spannungen innerhalb des zivilgesellschaftlichen FS2C-Konsortiums, welche die Konferenz auslöst, werden in Betracht gezogen und aus Perspektive der Distributed Ecology eingeordnet.

[1] Nunes, Rodrigo. 2021. Neither Vertical Nor Horizontal: a theory of organization. Brooklyn: Verso Books, p. 26.