Postsouveräne Territorialität: Die Europäische Union als Großraum

Vortrag
Sitzungstermin
Mittwoch (20. September 2023), 16:30–18:00
Sitzungsraum
HZ 8
Autor*innen
Ulrike Jureit (Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur)
Kurz­be­schreib­ung
In ihren Selbstbeschreibungen bedient sich die EU unterschiedlicher Raumsemantiken, diese kreisen u.a. um den schillernden Begriff des Wachstums. Die Strategie, die faktische Containerisierung der Europäischen Union durch eine aktive Erweiterungspolitik zu durchkreuzen, ist indes gescheitert. Territorial vollzieht die EU seit 2007 den Schritt zur postsouveränen Großraumpolitik.

Abstract

Angesichts der Realitäten an den Außengrenzen stellt sich die Frage nach der territorialen Verfasstheit der Europäischen Union mit einer gewissen Brisanz. In ihren Selbstbeschreibungen bedient sich die EU unterschiedlicher Raumsemantiken, wobei zwei Formeln dabei im Zentrum stehen: zum einen die vom „Raum ohne Binnengrenzen“, zum anderen der „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“. Semantisch kreisen die Vorstellungen der territorialen Verfasstheit um den schillernden Begriff des Wachstums, der ja historisch nicht frei von Ambivalenzen ist. Programmatisch heißt es dazu in einer 2003 verfassten Selbstdarstellung, dass „die Europäische Union (…) ihrem Wesen nach dazu bestimmt (ist), zu wachsen“. Dabei lassen sich drei Ebenen unterscheiden: Wachstum bezieht sich erstens auf die territoriale Ausdehnung der Europäischen Union, zweitens auf erreichte oder angestrebte ökonomische Zuwächse und drittens auf die Vertiefung der politischen Integration unter den Mitgliedsstaaten.

Während die Wachstumssemantiken auf historische Referenzen verweisen, die schon im engeren Sinne als geopolitisch bezeichnet werden müssen, konterkariert die Europäische Union den eigenen Selbstentwurf durch die Feststellung, die Erweiterungsdynamik beruhe (zugleich oder trotz allem) auf dem freiwilligen Beitritt derjenigen demokratischen Staaten, die die Voraussetzungen im Sinne der Kopenhagener Kriterien erfüllen. Während also auf der Ebene der Selbstbeschreibung substantialistisch argumentiert wird, ist der Mechanismus der Erweiterung sowohl normativ als auch politisch-ökonomisch gefasst. Wer seinen „natürlichen“ Gegebenheiten und seinem eigenen „Wesen“ politische Relevanz zuspricht, der rekurriert auf kollektive Selbstbeschreibungen, die Homogenität als Strukturprinzip verankert haben. Solche Ordnungssysteme entwickeln spezifische Antworten auf Fragen von Staatlichkeit, Migration, Staatsbürgerschaft und Grenzsicherung. Die Strategie, die faktische Containerisierung der Europäischen Union durch eine aktive Erweiterungspolitik zu durchkreuzen, war indes so erfolgreich, dass sie ebenso rasant wie durchschlagend scheitern musste. Seit 2007 ist die Erweiterungseuphorie mittlerweile einer Territorialisierungslogik gewichen, die vor allem Schadensbegrenzung betreibt. Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) zielt nun auf „abgestufte Integration“, womit bisherige Grundprinzipien zugunsten eines asymmetrischen Ordnungsmodells aufgegeben werden. Territorial vollzieht die EU damit den Schritt zur postsouveränen Großraumpolitik, die politisch, ökonomisch wie auch rechtlich zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen Kernländern und Ergänzungsräumen unterscheidet. Ob sie damit den territorialen Grundkonflikt, nämlich die Interdependenz zwischen garantierter Freizügigkeit nach Innen und rigoroser Abschottung nach Außen, lösen kann, wird entscheidend davon abhängen, ob und wie sie grenzüberschreitende Mobilität reguliert.