Quartiere als Räume alltäglicher Aktionen und Interaktionen: Wie lässt sich ein konstruktivistisches Quartiersverständnis in ein übertragbares quantitatives Modell übersetzen?

Vortrag
Sitzungstermin
Mittwoch (20. September 2023), 09:00–10:30
Sitzungsraum
HZ 9
Autor*innen
Susanne Frank (TU Dortmund)
Thomas Terfrüchte (TU Dortmund)
Kurz­be­schreib­ung
Der Beitrag zeigt, wie ein qualitatives, offenes, relationales Verständnis des Quartiers als alltäglicher Aktions- und Interaktionsraum mithilfe eines kreativen Gebrauchs geokodierter statistischer Daten in ein komplexes quantitatives Modell der Quartiersabgrenzung überführt werden kann.

Abstract

Obwohl sich Stadtforschung theoretisch, empirisch und anwendungsbezogen schon seit Jahrzehnten intensiv mit dem Quartier als Planungs- und Handlungsraum beschäftigt, gibt es bislang keinen Konsens in den Fragen, was ein Quartier ausmacht und wie man Quartiere sinnvoll gegeneinander abgrenzen kann. Eine klare Trennlinie verläuft hier zwischen qualitativen Ansätzen, die den sozialen Konstruktionscharakter von Räumen und damit die Unmöglichkeit klarer Grenzziehungen betonen („fuzzy boundaries“), und quantitativen Herangehensweisen, die Quartiere oftmals ausgehend von administrativen Grenzen bzw. auf der Basis einfach verfügbarer statistischer Daten pragmatisch festlegen („Container“).

Aus Sicht von Stadtpolitik und Stadtplanung sind beide Ansätze gleichermaßen problematisch: Ersterer, weil es sich in vielen Politikfeldern bzw. Arbeitsbereichen mit unscharfen Quartiersgrenzen schlecht arbeiten lässt, und letzterer, weil er häufig willkürlich erscheint und die zentrale alltags- und lebensweltliche Bedeutung von Quartieren ignoriert.

An dieser unbefriedigenden Situation setzt unser Beitrag an. Wir stellen einen innovativen Mixed Methods-Ansatz der Quartiersabgrenzung und -typisierung vor, der zum Ziel hat, die Stärken beider Ansätze zu bewahren, ihre Schwächen zu kompensieren und für eine evidenzbasierte Stadtentwicklung gut nutzbar zu sein. Dabei legen wir ein qualitatives, offenes, relationales Verständnis des Quartiers als alltäglicher Aktions- und Interaktionsraum zugrunde, das wir mithilfe eines kreativen Gebrauchs geokodierter statistischer Daten in ein komplexes quantitatives Modell überführen, welches auch soziale und funktionale Verflechtungen in die Abgrenzung einbeziehen kann. Die Ergebnisse werden wiederum mit qualitativen Methoden validiert.

Der Schwerpunkt des Beitrags liegt auf der Darstellung der großen Herausforderungen, vor die uns das Ansinnen stellt, Quartiere nicht vorab zu setzen, sondern aus einer subjektzentrierten, lebensweltlichen Perspektive heraus in den statistischen Daten zu entdecken. Denn zum einen muss erst einmal geeignetes, d. h. in Daten vorliegendes oder übersetzbares Material identifiziert bzw. erhoben und aufbereitet werden. Zum anderen gilt es, Wege zu finden, prägende Quartiersmerkmale wie wiederkehrende Aktivitäten, alltagsweltliche Interaktionen, prinzipielle Offenheit sowie soziale und funktionale Verflechtung von Quartieren in die statistische Modellbildung eingehen zu lassen. So zeigen wir zum Beispiel, wie wir unsere Annahme, dass Schulen, Kitas, Supermärkte, Wartezimmer von Ärzten oder Behörden, Kirchen usw. Orte der Begegnung sind, operationalisieren können.

Der auf andere Städte übertragbare Ansatz wurde im Rahmen des BMBF-Projekts „MOSAIK“ in Kooperation mit der Stadt Remscheid entwickelt, wo er seit einigen Jahren erfolgreich genutzt wird.