Reifizierter Zusammenhalt: Nachbarschaften

Vortrag
Sitzungstermin
Mittwoch (20. September 2023), 11:00–12:30
Sitzungsraum
HZ 12
Autor*innen
Maren Schwarz (Bremen)
Kurz­be­schreib­ung
Nachbarschaften werden oft unhinterfragt mit guter Gemeinschaft und sozialem Zusammenhalt gleichgesetzt. Aus dieser Idealisierung städtischen Zusammenlebens ist ein scheinbar kausaler Zusammenhang entstanden, der eine reifizierende Wirkung hat und sich als inkohärente gouvernementale Regierungsform beschreiben lässt.
Schlag­wörter
Nachbarschaften, städtisches Zusammenleben

Abstract

Gute Gemeinschaft, Solidarität und sozialer Zusammenhalt – all dies sind Attribute, die dem Begriff der Nachbarschaft zugeschrieben werden. Daraus scheint sich heute ein kausaler Zusammenhang entwickelt zu haben, der in staatlichen raumbezogenen Förderprogrammen in marginalisierten Gebieten genutzt werden soll (Reutlinger et al. 2017, 17 f.). Zwar wird die idealisierte Wirkmacht nachbarschaftlicher Beziehungen schon seit langem in der fachlichen Diskussion angezweifelt. Nichtsdestotrotz bleibt die romantisierte Vorstellung von Nachbarschaften hartnäckig bestehen und wirkt sich weiterhin auf Prozesse der Stadtentwicklung aus (Dangschat 2017, 22 f.; Siebel 2009, 11).

Mit meinem Beitrag möchte ich Nachbarschaften als Form der verräumlichten Vergemeinschaftung dekonstruieren. Ich möchte aufzeigen, dass Vorstellungen über das nachbarschaftliche Zusammenleben eine pädagogische Wirkmacht zugeschrieben wird (Wietschorke 2012, 105 ff.), die in der neoliberalen Stadtentwicklung als gouvernementale Regierungsform eingesetzt wird (Kamleithner 2009, 33 ff.), um strukturellen Ungleichheiten symptomatisch zu begegnen. Es kann jedoch argumentiert werden, dass darin ein traditionell-normatives Verständnis zum Ausdruck kommt, das eine reifizierende Wirkung hat: Alle Bewohnenden eines Raumausschnitts werden in dieser Sichtweise zu ‚‚guten Nachbar*innen‘‘ gemacht, denen ein gemeinschaftlicher Zusammenhalt unterstellt wird. Dieses Bild widerspricht den Realitäten des nachbarschaftlichen Alltags, das sich insofern wesentlich komplexer gestaltet, als es von divergierenden habituellen Einstellungen (nach Drilling et al. 2017, 72) und konflikthaften mikropolitischen Aushandlungsprozessen (Amin 2002, 973; zum Beispiel: Gökarıksel/Secor 2022) bestimmt ist.