Risikoorientierung zwischen Vergangenheit und Zukunft: Vergangene Tag und zukünftiges Risiko

Vortrag
Sitzungstermin
Mittwoch (20. September 2023), 16:30–18:00
Sitzungsraum
SH 3.104
Autor*innen
Marina Richter (HES-SO Valais-Wallis)
Kurz­be­schreib­ung
Das Prinzip der Risikoorientierung im Justizvollzug orientiert sich prinzipiell an der Zukunft, indem zukünftige Taten verhindert werden sollen. Der Beitrag postuliert, dass die Umsetzung (am Beispiel der Praxis in der Schweiz) zu einer Ausrichtung auf die Vergangenheit führt.

Abstract

Die Orientierung am Risiko eines erneuten Delikts prägt heutzutage den Justizvollzug in der Deutschschweiz. Dabei wurde zuerst in einem Pilotversuch (2010-2013) das Prinzip der Risikoorientierung, wie es aus der forensischen Verhaltenspsychologie von Andrews und Bonta bekannt ist, in einen strukturierten Prozess übersetzt und erprobt. Seit 2018 arbeiten alle Elemente – wie bspw. die Justizvollzugsanstalten, die Bewährungshilfe, sowie auch die einweisenden Behörden – des Justizvollzugs in allen Kantonen der Deutschschweiz nach diesem Modell des Risikoorientierten Sanktionenvollzugs ROS. In der lateinischen Schweiz kennt man zwar ebenfalls die Risikoorientierung und wendet dieses Prinzip auch in allen Kantonen an, jedoch gibt es bisher kein ähnlich strukturiertes Modell, welches in der Praxis angewandt würde.

Das Modell ROS strukturiert den Sanktionenvollzug basierend auf einer forensischen Analyse des Delikts und identifiziert Risiken. Daraus werden Ziele abgeleitet, welche individuell im Vollzug zu erarbeiten sind. Diese können auf der psychologischen Verhaltensebene liegen und werden dann zumeist im Rahmen einer psychologisch-psychiatrisch angeleiteten Therapie behandelt. Oder sie liegen auf der Ebene sozialer Verhaltensweisen, welche im Rahmen der Sozialen Arbeit bearbeitet werden. Diese Ziele strukturieren nicht nur den Vollzug der eingewiesenen Individuen, sie setzen auch die Messlatte für die Progression im Vollzug (den Übergang vom geschlossenen in den offenen Vollzug und in die Bewährungshilfe) sowie für Vollzugslockerungen (insbesondere Urlaube).

Der Vortrag basiert auf Daten aus verschiedenen Forschungsprojekten zur Sozialen Arbeit im Justizvollzug im stationären Setting wie auch in der Bewährungshilfe. Aus Beobachtungen und Interviews mit Mitarbeitenden im Vollzug und mit eingewiesenen Personen sowie Personen in der Bewährungshilfe wird die Frage der Zeitlichkeit in der Risikoorientierung erörtert. Dabei geht es insbesondere um die Spannung, welche durch den Blick auf das Delikt einerseits und das Risiko zukünftiger Delikte andererseits entsteht. Der Blick auf das begangene Delikt, als Ausgangspunkt der Risikoorientierung, beinhaltet eine Orientierung an der Vergangenheit, an der spezifischen Situation, welche zum Delikt geführt hat und welche u.U. für die eingewiesene Person nicht mehr oder nicht in dieser Form Gültigkeit hat. Gleichzeitig orientiert sich der Risikogedanke an der Prävention zukünftiger Delikte. Diese Spannung ist nicht nur konzeptueller Art, sondern sie wirkt sich auch direkt auf den Verlauf des Vollzugs der eingewiesenen Personen aus und strukturiert gewissermassen ihre Zukunft anhand eines einzelnen – wenn auch bedeutenden – Moments ihrer Vergangenheit.