Situative Praktiken visuell erfassen

Vortrag
Sitzungstermin
Donnerstag (21. September 2023), 16:30–18:00
Sitzungsraum
SH 1.105
Autor*innen
Lara Cherbal (JGU Mainz)
Kurz­be­schreib­ung
Der Beitrag zeigt das visuelle Erfassen von situativen Praktiken, Raumproduktionen und (Identitäts-) Aushandlungen anhand von konkreten fotografischen Beispielen, sowie die damit verbundenen Begrenzungen und Herausforderungen.
Schlag­wörter
Fotografie als Methode, empirische Sozialforschung, situative Praktiken, Identität, Sultanat Oman

Abstract

Die Fotografie ermöglicht im empirischen Forschungsprozess situativ Bedeutsames für die beobachtete Zielgruppe, das zeitlich und räumlich meist höchst volatil ist, festzuhalten und damit längerfristig greifbar für den Verstehens- und Interpretationsprozess eines Forschungsprojektes zu machen. Im Rahmen des nachfolgend kurz umrissenen Dissertationsprojekts werden zum einen Fotos im Feld angefertigt als auch Fotos ausgewertet, die mit der Forscherin in den sozialen Netzwerken geteilt werden. Fotografisch festgehalten werden dabei Alltagsszenen. Sie ermöglichen einen visuellen Zugang zu situativen, nonverbal ausgedrückten Identitätsaushandlungen und Positionierungen im sozialräumlichen Gefüge.

Im Forschungsprojekt werden raumwirksame Praktiken und situative Identitätsbezüge junger Omani in Muscat, im Sultanat Oman, untersucht. Das Land befindet sich in einer rasanten Transformation, was sich gerade im Städtischen, vor allem in veränderten Räumlichkeiten, ausdrückt: neue Konfigurationen von Privatheit/Öffentlichkeit, neue Begegnungsräume in semi-öffentlichen Zwischenräumen, die bisher unhinterfragte Bezüge sozialer Zugehörigkeit und (nationaler) Identität in Frage stellen. Es wird einem praxistheoretischen Ansatz gefolgt und der Frage eines geteilten sozialen Sinns für Begegnungsräume der omanischen Gesellschaft nachgegangen. Das implizite Wissen (tacit knowledge) steht im Vordergrund der Untersuchung. Es stellt sich forschungspragmatisch die Frage, wie das unartikulierte Wissen erfasst werden kann. Anhand von Fotografien können alle nicht-sprachlichen Artefakte, räumlichen Settings und demnach auch „stumme“ soziale Phänomene, die als selbstverständlich gelten und somit keiner sprachlichen Artikulation bedürfen, in ihrer Komplexität visuell erfasst werden (Breidenstein et al 2015). Es eröffnet sich die Möglichkeit, verborgene Mechanismen des „Insider-Seins“, in diesem Falle das „Hoheitswissen“ der Nationals, der Omani bzw. des omanischen Habitus, zu entschleiern und für Interpretationsprozesse greifbar zu machen (Rose 2021).

In der Feldforschung zeigen sich Diskrepanzen zwischen den theoretischen Überlegungen und der konkreten empirischen Erhebung sowie daraus resultierende Herausforderungen. So soll durch Fotografien das Verborgene sichtbar gemacht werden – jedoch ohne dabei private Grenzen zu überschreiten. Im skizzierten Forschungsprojekt zeigt sich, dass es in einem gesellschaftlichen Kontext, dessen Regeln dem Eigenen primär wenig vertraut sind, einmal mehr herausfordernd ist, diese Balance zu finden. Fotos sind zudem keine neutrale Datenquelle, sondern haben einen doppelten Effekt - die Performativität einerseits sowie die (visuelle) Begrenzung anderseits - und bedürfen somit stets einer Kontextualisierung (Dirksmeier 2013). Der skizzierte Beitrag möchte konkrete Beispiele zeigen sowie Herausforderungen und offene Fragen mit dem Plenum diskutieren.