Verlust lokalisieren: Auf der Suche nach einem unvergänglichen Objekt in Aleppo

Vortrag
Sitzungstermin
Donnerstag (21. September 2023), 11:00–12:30
Sitzungsraum
HZ 7
Autor*innen
Zoya Masoud (TU Berlin)
Kurz­be­schreib­ung
In Aleppo unter der Belagerung zu leben, bedeutete, alltäglich und allgegenwärtig mit dem Tod konfrontiert zu werden. Gruppen junger Männer schlossen sich einem Kollektiv an, um ein unvergängliches Objekt (die Altstadt von Aleppo) zu schützen.
Schlag­wörter

Abstract

Zwischen 2012 und 2016, während des syrischen Kriegs, stand Aleppo über Monate hinweg im Brennpunkt der Kampfhandlungen. Verlust zu erleben, war die tägliche Routine: Die Belagerungen durch verschiedene Kriegsparteien wirkten sich maßgeblich auf die lokalen Lebensbedingungen wie auch das materielle Erbe der Stadt aus. Während der Kampfhandlungen durften weder Lebensmittel noch Menschen den Belagerungsring passieren. Tod und Vernichtung waren allgegenwärtig. In einer Atmosphäre mangelnder Sicherheit machten sich Gruppen junger Männer täglich in den Rebellengebieten auf den Weg an die Front. Ihr Ziel war es, Kulturgüter von der Frontlinie zu translozieren, Gebäude von hohem kulturellem Wert zu erschließen, zu dokumentieren und zu erhalten.

Nach dem Ende der Kampfhandlungen führte ich Interviews mit verschiedenen Akteuren dieser jungen Aleppiner durch. In den Gesprächen kristallisierte sich rasch heraus, dass zahlreiche Mitglieder der Gruppierung vor ihrem Einsatz für das aleppinische Kulturerbe keinerlei persönliche Verbindung zur Altstadt aufwiesen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welche Motivation dem lebensbedrohlichen Engagement der jungen Männer zugrunde lag? Wie konstituierte sich diese Gruppierung? Wer zählte zu den Akteuren und inwiefern gab es Ausschlusskriterien zur Partizipation?

Ich argumentiere, dass sich die Gruppe in einem räumlichen Ausnahmezustand befand, in dem aufgrund der spezifischen Kriegssituation nichts alltäglich oder routiniert war. Das Leben in Aleppo während der Kampfhandlungen war von existenzieller Angst vor einem willkürlichen Tod geprägt. Diese Ausgangslage trug dazu bei, dass sich das Kollektiv junger Aleppiner zusammenschloss. Sie versuchten, ein unvergängliches Objekt in der Form einer subjektivierten Altstadt zu schaffen und zu verkörpern.

In Erwartung des sicheren Todes, versuchten sie sich für etwas engagieren, dass auch nach ihrem Ableben Bestand haben würde. So hofften sie, die Altstadt Aleppos zu schützen und verweigerten sich damit ihrem Schicksal des sicheren Todes. Sie schlossen sich einem Kollektiv an, um ein unvergängliches Objekt zu schützen. In diesem Kontext erfanden sie ihre Modalität der Agency, um Angst zu bewältigen.