Vom Verschwinden der einfachen Arbeit(er*innen): Ländliche Armut als Produkt politischer Regulierung und sozialpolitische Herausforderung
Abstract
Der Beitrag widmet sich dem Zusammenhang von Peripherisierung und ländlicher Armut im Spannungsfeld aus ökonomisch, politisch, sozial und demografisch bedingten Abwertungsprozessen auf der einen und lokalen Aufwertungsstrategien auf der anderen Seite. Den Rahmen bildet ein laufendes qualitativ-empirisches Forschungsprojekt, in dem das teilhabefördernde Potenzial informeller Reproduktionsstrategien von Armutsbetroffenen in vier ländlichen Armutsräumen der neuen und alten Bundesländer untersucht wird. Armutsräume werden dabei als Räume verstanden, die durch eine ländliche Struktur (geringe Siedlungsdichte, relative Distanz zu größeren Städten und Mittelstädten), hohe Arbeitslosigkeit, geringe Einkommen, eine prekäre Versorgungslage, demographische Schrumpfungsprozesse, defizitäre Infrastruktur und kommunale Verschuldung gekennzeichnet sind.
Der Beitrag argumentiert erstens, dass kommunalpolitische Aufwertungsstrategien, entgegen ihrer eigentlichen Intention, nicht nur zu räumlichen Peripherisierungsprozessen beitragen, sondern überdies Prozesse einer sozialen Binnenperipherisierung verstärken und soziale Ungleichheiten in ländlichen Räumen verschärfen. Dabei soll deutlich gemacht werden, dass ländliche Armut auch ein Produkt politischer Regulierungsweisen darstellt, weil diese Prozesse neben kommunalpolitischen Aufwertungsstrategien von der Wirkungslosigkeit lokaler Sozial- und Arbeitspolitiken angetrieben werden.
Zweitens unterstützt der Beitrag die These der Sitzung, wonach sozio-ökonomischen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte zur Herausbildung einer neuen Kategorie von vernachlässigten Räumen beigetragen haben in sozialstruktureller Hinsicht: Im Kontext von Peripherisierungsprozessen und der Zunahme räumlicher Ungleichheit lässt sich in den untersuchten Armutsräumen die Entstehung einer sozialpolitisch vernachlässigten und verarmten ländlichen Arbeiter*innenklasse beobachten, die auf niedrigsten staatlich subventionierten Reproduktionsniveaus sich selbst überlassen wird. Im Schatten von Arbeitsmarkt und sozialstaatlicher Sicherung versuchen Armutsbetroffene dabei ihre Reproduktion mithilfe informeller Versorgungsstrukturen prekär zu sichern.
Vor diesem Hintergrund argumentiert der Beitrag drittens, dass die Entstehung innerer ländlicher Peripherien und die Entwicklung ländlicher Armut in Deutschland eine Abkehr von einer primär auf Wirtschaftswachstum verpflichteten Sozial- und Arbeitsmarktpolitik nötig macht. Der Bedeutungsverlust regulärer Erwerbsarbeit für die soziale Reproduktion eines Großteils der verarmten ländlichen Arbeiter*innenklasse lässt sich mit den Instrumenten einer aktivierenden Sozial- und Arbeitsmarktpolitik nicht angemessen bearbeiten. An die Stelle von Aktivierung und wachstumsorientierter Erwerbsintegration muss eine nachhaltige Postwachstums-Sozialpolitik treten, die Armut wirksam bekämpft.