Von der Flucht zur Selbstermächtigung: Erforschung der Wege zur Erlangung von Wohnraumautonomie für Opfer häuslicher Gewalt
Abstract
Sich zu Hause sicher fühlen - dieses Grundbedürfnis ist für Frauen, die häusliche Gewalt erleben, nicht erfüllt. Um der Gewalt zu entkommen, ist es meist notwendig, einen sicheren Ort zu finden oder in eine neue Wohnung zu ziehen. Nicht selten werden Mehrfach-Umzüge innerhalb eines längeren Zeitraumes und über unterschiedliche Distanzen nötig. Die Frauenschutzhäuser sind ein, aber längst nicht der einzige Anlaufpunkt. Selbst der Verbleib in der bisherigen Wohnung, ggf. der vorübergehende oder dauerhafte Auszug des Partners, gehört zu den gelebten Strategien von betroffenen Frauen. Denn ein Wohnortwechsel ist mit einer Vielzahl von Schwierigkeiten verbunden, die sich aus dem individuellen Schutz- und Betreuungsbedarf der Betroffenen, der psychischen Verletzlichkeit und Traumatisierung sowie dem begrenzten Zugang zu Ressourcen ergeben können. Aber auch wenn die eigene Kraft noch ausreicht, können strukturelle Probleme wie ein lokaler Mangel an bezahlbarem Wohnraum, Diskriminierung und Voreingenommenheit gegenüber den Betroffenen ein Hindernis darstellen. Lange Aufenthalte in Schutzhäusern, verdeckte oder offene Obdachlosigkeit sind nur einige der negativen Folgen für betroffene Frauen.
Die Erforschung dieser „Wege“ der von häuslicher Gewalt betroffenen Frauen trägt dazu bei, die Dimension von verräumlichter Macht (der Täter) und gleichzeitig von Selbstermächtigung der betroffenen Frauen, sich sichere (Wohn‑)Räume zu erschließen, offenzulegen. Die Möglichkeit sich einen anderen Wohnraum anzueignen, oder den bisherigen wieder zu einem sicheren Ort zu machen (bspw. durch Wegweisung/Durchsetzung des Auszugs des Täters) und damit Macht über die freie Wahl des eigenen Zuhauses zu haben, ist ein bislang noch selten anzutreffender Blickwinkel auf häusliche Gewalt. Er verspricht jedoch eine neue Herangehensweise zur Prävention von und Intervention bei häuslicher Gewalt, die die Bedeutung sozialer Vernetzung, von alltagsweltlichen Kompetenzen und materieller Ressourcen bzw. ökonomischer Unabhängigkeit von Frauen* in den Fokus rückt.
Ausgangspunkt für unsere Überlegungen ist die Forschung von Janet C. Bowstead, die Umzugsmuster von betroffenen Frauen analysiert und drei Strategien der Schutzsuche vor häuslicher Gewalt identifiziert hat: vor Ort bleiben, in der Nähe bleiben, woanders hingehen. Wie die Wahl einer oder mehrerer Strategien mit den zur Verfügung stehenden tatsächlichen oder gefühlten Ressourcen zusammenhängt, wollen wir anhand einer qualitativen Befragung von Betroffenen näher untersuchen. Unsere These ist, dass der Grad an sozialer Vernetzung der Betroffenen, die finanzielle (Un‑)abhängigkeit, die biografisch geprägten Wohnerfahrungen und Erfahrungen mit Wohnungssuche und Umzügen ebenso eine Rolle spielen können, wie die tatsächliche Verfügbarkeit von Frauenhausplätzen und Erreichbarkeit von Angeboten des Gewaltschutz-Hilfesystems vor Ort. Der Vortrag wird Einblicke und vorläufige Ergebnisse des aktuellen Forschungsprozesses bieten.