Großraum und Grenzsaum: Kontinuitäten und Brüche in Geopolitiken nach 1945 (1/2)

Fachsitzung
Sitzungs-ID
FS-257
Sitzungsreihe
Gehe zu: Teil (2/2)
Termin
Mittwoch (20. September 2023), 14:30–16:00
Raum
HZ 8
Sitzungsleitung
Judith Miggelbrink (TU Dresden)
Ian Klinke (University of Oxford)
Kurz­be­schreib­ung
Die Sitzung befasst sich mit Geopolitiken in Theorie und Praxis nach 1945 und fragt nach Kontinuitäten und Brüchen. Dies geschieht vor dem Hintergrund aktueller medialer Debatten zur Wiederkehr der Geopolitik angesichts der russischen Invasion in die Ukraine, ist aber nicht darauf beschränkt.
Schlag­wörter

Abstract der Sitzung

Seit dem Beginn der jüngsten russischen Invasion der Ukraine im Februar 2022 sieht ein großer Teil der nordatlantischen Medienlandschaft ein neues Zeitalter der Geopolitik aufziehen. Die aggressive russische Großmachtpolitik wird vielerorts entweder als Ausdruck geopolitischen Denkens im Kreml oder gar als direkte Konsequenz geographischer ‚Zwänge‘ und Gewalten interpretiert. Gebirgskämme, Ölfelder, Pipelines sowie die klimatischen Bedingungen der Kriegsführung geraten damit ebenso ins Rampenlicht der medialen und politischen Analyse wie tradierte geopolitische Vorstellungen, die als handlungsleitend und -legitimierend identifiziert werden. Eine besondere Rolle spielt dabei der ultranationalistische Geopolitiker Alexander Dugin, der sich freizügig bei den Raumkonzepten Friedrich Ratzels, Halford Mackinders und Carl Schmitts bedient. Jenseits der ausgedehnten wissenschaftlichen Kritik an geopolitischen Imaginationen, Denk- und Argumentationsmustern ist ‚Geopolitik‘ wieder in vieler Munde – und sei es nur in zeitdiagnostischer Absicht.

Und dennoch ist es unklar, ob die Geopolitik zwischen 1945 und 2022 je wirklich abwesend war. Während die deutsche Geopolitik heute primär als Vorgeschichte der nationalsozialistischen Eroberungs‑, Vernichtungs- und Lebensraumpolitik verstanden wird und dementsprechend seit 1945 als ideologisch kontaminiert gilt, erwies sich eine britische Variante als anpassungsfähiger (Werber, 2014). Zwar geriet auch Mackinders “geographischer Dreh- und Angelpunkt der Geschichte” angesichts des verheerenden Weltkrieges, der in seinem Namen ausgetragen wurde, unter Erklärungsdruck. Und doch lebte die mit Mackinders Namen verbundene Weltanschauung in den angloamerikanischen Militärkreisen nach 1945 weiter. Auch in der Zeit nach 1989 fand die Geopolitik in vielen europäischen Gesellschaften neue Anhänger (Guzzini, 2012). Versatzstücke geopolitischer Imaginationen waren nie ganz verschwunden und einzelne Begriffe, wie etwa Ratzels Grenzsaum, werden – auch lange vor der aktuellen russischen Invasion – bewusst auch zu analytischen Zwecken reanimiert (Cuttitta, 2014). Mindestens unterschwellig und latent setzt sich geopolitisches Denken auch nach 1945 fort.

Unsere Paper-Sitzungen versuchen neues Licht in Kontinuitäten und Brüche der Geopolitik nach 1945 zu bringen.

Wir befassen uns mit den folgenden Fragen:

Vorträge können auf Deutsch oder Englisch gehalten werden; die Diskussion wird flexibel darauf abgestimmt.