Alltägliche Aneignungspraktiken in Leipzig: Eine vergleichende Diskussion dokumentarischer Analyseergebnisse aus gesprächsbasierten und autofotografischen Erhebungsdaten

Vortrag
Sitzungstermin
Donnerstag (21. September 2023), 18:15–19:45
Sitzungsraum
SH 1.105
Autor*innen
Anne Köllner (Universität Leipzig)
Kurz­be­schreib­ung
Der Beitrag vergleicht zwei Zugänge zur Untersuchung der Strukturierung sozialer Praktiken: die dokumentarische Analyse von Interviews sowie von Autofotografien. Der methodische Beitrag ist Teil einer Arbeit zu eigenmächtigen Aneignungspraktiken einer postpolitischen Stadt des globalen Nordens.

Abstract

Im Zuge neoliberaler Tendenzen des Städtischen verschwinden Auseinandersetzungen zunehmend aus Städten – ein Prozess, der Postpolitisierung genannt wird. Die Forschungsarbeit, in welcher dieser Beitrag entstanden ist, fragt danach, wie sich Momente des Politischen entwickeln können, die der Postpolitisierung entgegen stehen. Dazu werden eigenmächtige alltägliche Aneignungspraktiken im öffentlichen Raum von Leipzig analysiert. Auf der Grundlage von 17 mobilen Interviews, die autofotografisch begleitet werden (DIRKSMEIER 2013:88ff.), wird mittels dokumentarischer Analyse eine Typik von Orientierungsmustern rekonstruiert. Ausgehend von der Grundannahme, dass solche Orientierungsmuster Aneignungspraktiken anleiten, werden sie ins Verhältnis gesetzt zu den Merkmalen ,echter’ Politik (RANCIÈRE 2014: 128). Ziel des Beitrags ist eine vergleichende Diskussion der Datengrundlagen (Interview‑)Text und Foto: Welche Möglichkeiten liefern sie jeweils, um strukturierende Momente der Handlungspraxis zu rekonstruieren? Welche Eigensinnigkeiten und Eigenlogiken entfalten Fotos jenseits von Text (DÖRNER 2013: 213)?

Der vorliegende Beitrag geht von einer doppelten Strukturiertheit der Wissensebenen aus: Der Praxeologischen Wissenssoziologie zufolge, die der Dokumentarischen Methode zugrunde liegt, werden Praktiken angeleitet von kommunikativen sowie konjunktiven Wissensbeständen. Das kommunikative Wissen umfasst den Bereich des generalisierten, nahezu universell relevanten Kontextwissens, der für die „ständige Normalitätskonstruktion“ (MÜLLER 2013:31) genutzt wird – wie institutionalisierte Normen, gesellschaftliche Identitätserwartungen sowie Common Sense-Theorien (BOHNSACK 2017:35, 102, KUBISCH & STÖRKLE 2016:60). Das konjunktive Wissen meint demgegenüber die überindividuelle Summe ‚sedimentierter Erfahrungen‘ (KUBISCH & STÖRKLE 2016:70), die auch als sozialer Sinn oder implizite Regelhaftigkeit von Gesellschaften bezeichnet werden kann (KRAMER 2018:248). Beide Wissensformen sind in einem Spannungsverhältnis eng verbunden. Sie unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Zugänglichkeit und ihrer Handlungsleitung: Während auf das kommunikative Wissen reflexiv zugegriffen werden und es verbalisiert werden kann, ist das konjunktive Wissen implizit (BOHNSACK 2018:216), spielt jedoch eine bedeutende Rolle in der Anleitung von Praktiken, u.a. in Form von Orientierungsmustern. Damit ist das konjunktive Wissen besonders relevant für eine Rekonstruktion sozialer Sinngebungen.

Da sowohl Interviews als auch Fotos eigenlogische Kommunikationsmedien bilden, die in sinnhaften Praktiken hervorgebracht werden, bilden sie wesentliche Ansatzpunkte und Erkenntnisquellen für die Rekonstruktion des kommunikativen wie des konjunktiven Wissens (BOHNSACK 2017: 186; DÖRNER 2013: 213, MÜLLER 2013: 33). Die vergleichende Diskussion des Beitrags arbeitet die jeweiligen Stärken der Zugänge aus einer dokumentarischen Analyseperspektive heraus.