Am Rand der Finanzialisierung: Fallstudien in postsozialistischen Großwohnsiedlungen in Berlin und Halle

Vortrag
Sitzungstermin
Mittwoch (20. September 2023), 14:30–16:00
Sitzungsraum
SH 1.108
Autor*innen
Karim Ghaleb (Berlin)
Felix Böhmer (Berlin)
Kurz­be­schreib­ung
Der Beitrag diskutiert die Kommodifizierung und Finanzialisierung postsozialistischer Wohnsiedlungen. Durch einen vergleichenden Ansatz wird die Finanzgeographie der Peripherie in zwei deutschen Städten beschrieben.
Schlag­wörter
Commodification Gap, Postsozialistischen Großwohnsiedlungen, Finanzialisierung

Abstract

Periphere Wohnsiedlungen sind eine besondere Anlageklasse für börsennotierte Immobiliengesellschaften, die ihren Strategien zur Kapitalgewinnung dienen. Die “Ränder” in unserer Untersuchung beziehen sich nicht nur auf die Randlage der Siedlungen im Verhältnis zu den Stadtzentren, sondern auch auf wirtschaftliche, soziale und rassifizierte Ränder in Berlin und Halle. Der Artikel bietet ein vertieftes und aktualisiertes Verständnis der Finanzialisierung im Lichte der Anlagemöglichkeiten in den Quartieren. Die Ergebnisse bauen auf Untersuchungen im Rahmen zweier Masterarbeiten.

Wir analysieren Eigentumsdaten, demografische Daten und Finanzberichte von Wohnungsunternehmen, darunter: Deutsche Wohnen, TAG Immobilien, Grand City Properties, Stadt Und Land, Grüne Mitte und GWG Halle-Neustadt von 2020 und 2021. Die Daten der Unternehmen wurden aufbereitet, um ihre Geschäftsstrategien auf der Mikroebene in Marzahn-Hellersdorf und Halle Neustadt zu analysieren. Um die Ergebnisse zu interpretieren, bringen wir das Spatial Fix-Konzept von David Harvey (1982 und 1985) in die Diskussion ein, das erklärt, wie die Finanzialisierung auf die gebaute Umwelt zurückgreift, um in einer Krise der Überakkumulation Gewinne zu erzielen, indem Wohnraum in Finanzanlagen umgewandelt wird. Außerdem leisten wir einen Beitrag zu Matthias Bernts Theorie der “Commodification Gap” (2022).

Die Monopolisierung solcher Teilmärkte durch einige wenige Finanzinvestoren ermöglicht es dem relativ unterentwickelten Immobilienmarkt, durch Aufwertungs- und Refinanzierungsstrategien hohe Anlagegewinne zu erzielen. Diese Strategien garantieren eine gleichmäßige geografische Verteilung der finanziellen Gewinne über den Wohnungsbestand, was zu einer ungleichmäßigen geografischen Entwicklung sowohl in der Stadt als auch innerhalb der Wohnsiedlungen selbst führt. Die Aufwertung profitiert auch von gängigen Praktiken wie dem “Hartz-IV-Modell der Vermietung” (Aalbers et al. 2018; Bernt et al. 2017; Bernt 2020; Heeg 2013; Heeg 2017) und der Vermietung an Flüchtlinge im unterversorgten Bestand (siehe internal migration industries von Bernt et al. 2022). Der Wohnungsbestand wird so in einem nicht-dynamischen Umfeld mit stagnierenden Mieten für finanzialisierte Akteure nutzbar.

Die Ergebnisse in Halle-Neustadt und Marzahn-Hellersdorf bieten Anhaltspunkte für das Verständnis der allgemeinen Trends der Finanzialisierung und der Art und Weise, wie Finanzinvestoren an diese peripheren und marginalisierten Gebiete herangehen. Gleichzeitig liegen beide Fälle in zwei verschiedenen Metropolregionen, die sich in Bezug auf die Wohnsituation, die demografische Zusammensetzung und die Stadtentwicklung qualitativ unterscheiden. Daher werden sie dazu verwendet, um zu extrapolieren, wie die Finanzialisierung in peripheren Bezirken stattfindet und wie die Mikrogeographie eine wesentliche Rolle beim Verständnis der Finanzialisierung spielt.