Anders auf Tinder: Wie das Geschäft mit der Liebe diese selbst verändert
Abstract
Fleißig reproduzieren popkulturelle Medien - Bücher, Filme, InfluencerInnen, Memes usw. - unseren „letzten großen gesellschaftlichen Mythos“ (Schreiber 2021): die romantische Liebe. Als Phantome prägen sie, folgt man Anders Analysen des Essays Die Welt als Phantom und Matrize, somit unser Denken, Handeln und Fühlen, sowie unsere Wirklichkeit selbst. Mit dem Aufkommen von Dating-Apps wie Tinder ist die Liebe jedoch selbst zur Ware geworden; nein, sogar das bloße Vermitteln von ihr (Brooks 2021). Das idealisierte Bild der romantischen Liebe, die in vielerlei Hinsicht noch den platonischen Idee der Kugelmenschen gleicht, widerspricht dem Geschäftsmodell des derzeitigen Überwachungskapitalismus (Zuboff 2018): UserInnen so lange wie möglich auf der eigenen Plattform zu halten, um Daten von diesen sammeln und verkaufen zu können. Das Beworbene „Matchmaking“, welches die Nutzung an sich obsolet machen würde, steht somit dem gewünschten Produkt, dem fortwährenden Engagement der UserInnen, diametral entgegen.
Dieser Betrag möchte dieser hier vorliegenden Dialektik nachgehen. Dafür wird zuerst das Medium Tinder, als Beispiel zeitgenössischer Dating-Apps, mit Anders’schen Begriffen analysiert und dessen Implikationen auf unser Verhalten untersucht — u.A. die scheinbar endlose Verfügbarkeit von potenziellen Phantom-PatnerInnen; das „Swipen“ als Genussmittel der Unterhaltungsindustrie und stimmungsmäßig disparate Beschäftigung unserer Organe; usw. Hierbei wird ersichtlich werden, dass sich die (für viele alltägliche) Praxis der Nutzung von Dating-Apps, welche maßgeblich durch ihre überwachungskapitalistische Logik bestimmt ist, auf unsere alltägliche Intimität auswirkt — dies wird anhand des Phänomens des „Ghostings“, das unerwartete Abbrechen des Kontakts, in den Blick genommen. Es ist insofern interessant, weil es nachhaltig zwischenmenschlichen Beziehungen und unser gesellschaftliches Bild von Liebe in der Praxis verändert. Insofern ist es ein zentrales Element der derzeitigen Konstitution unseres Liebesverständnisses und die beschriebene Dialektik ein praktisches Sinnbild der Plastizität unserer Gefühle.