Anthropologie, Sozialgeografie und politische Philosophie: Raum-Zeitkonfigurationen und Bewegungen zwischen Öffentlichkeit und Intimität
Abstract
Anhand empirischer Beispiele, vor allem aus der Festforschung, wird der Versuch unternommen, phänomenologisch orientierte Zugänge aus der Anthropologie (Ingold 2011) und Geografie (Massey 2005) mit Überlegungen der politischen Philosophie (Arendt 1958) zu verbinden. Aus dieser Verbindung könnten Ansätze der kritischen Sozialgeografie zu öffentlichen Orten und Räumen durch Überlegungen zur Rolle von Bewegung bei der Ortskonstruktion sowie dem komplexen Beziehungsgefüge Öffentlichkeit-Intimität weiter dynamisiert werden, ohne die soziale Konstitution und politisch-ökonomische Kritikfähigkeit zu verlieren.
Der Anthropologe Tim Ingold (2011) sowie die Geografin Doreen Massey (2005) gehen davon aus, dass der Mensch seine Umgebung über (physische und kognitive) Bewegungen erlebt, d.h. sich erschließt und vertraut macht. In diesem Prozess des Sich-Einlebens entwickelt er auch sein Selbstbild. Welt und Menschen konstituieren sich demnach wechselseitig, wobei sich beide in einem beständigen Prozess des Werdens und damit der zeitlichen Veränderung befinden. Ingold (2011) und Massey (2005) konzeptualisieren demnach „Raum“ als temporales Beziehungsgeflecht und relational-physische Konfiguration, die aus dem menschlichen „bewegten“ Einleben in der Welt hervorgehen. Nach Arendt (1958) ist eines der wichtigsten sozialen Ordnungsprinzipien das Erscheinen vor (bzw. das Gesehen- und Gehört-Werden von) anderen, wobei das Sich-Präsentieren in Bewegungen und an Orten häufig zu einem sozial wirksamen Akt der Identitätsverhandlung wird. Zugleich stehen Phasen und Orte der öffentlichen Präsentation meist mit Situationen und Gebieten des Rückzugs mit reduzierter Öffentlichkeit und von Intimität in Beziehung. Besonders auf Festen, die von Gemeinschaften organisiert werden, wofür der “Palio di Siena” ein Beispiel ist, wird die Verzahnung und Wechselbeziehung zwischen öffentlicher Schaustellung einerseits und Strategiebesprechung in speziellen Zonen der Intimität andererseits augenfällig. Öffentlichkeit und Intimität sind in diesem Fest in bestimmte Ortskonstellationen und Bewegungen eingebettet. Gleichzeitig wird in diesem Beispiel deutlich, dass sich bei der öffentlichen Zurschaustellung häufig intime Interieure geschaffen werden und die Rückzugsgebiete von Prozessen der Darstellungen in reduzierter Öffentlichkeit gekennzeichnet sind. Öffentlichkeit und Intimität werden so zu relativen Begriffen, die nicht polar gegeneinander gestellt werden können. Ein Forschungsfokus auf öffentliche Plätze ohne die Berücksichtigung von Orten der Intimität, wie dies in der Sozialgeografie gelegentlich noch üblich ist, ist daher nicht ausreichend, um die Bedeutungs- und Sozialgefüge auf urbanen Festen zu erfassen. Die Einbeziehung der Perspektive der Festgemeinschaften kann Studien der kritischen Forschung, die zu Recht die zunehmende Umwandlung von Festen zu Konsumgütern beklagt, ergänzen und relativieren.