Der vergessene planetarische Raum: Für eine anthropologisch orientierte Sozial- und Kulturgeographie (1/2)
Abstract der Sitzung
Ein Gespenst geht um in Europa, das Gespenst des Raumes. Nach Jahrzehnten seiner verweigerten Thematisierung, gar Delegitimierung aufgrund des Vergehens an angeblichen Essenzen und Ontologien, scheint nun immer mehr der Exzeß dieser ritualhaften Verleugnung hervor, nämlich die Austreibung des Raumes aus den Raumwissenschaften - als Folge seiner Diskursivierung und Versprachlichung. Die Geographie erscheint heute paradoxerweise als die Raumwissenschaft fast ohne materiellen Raumbezug, denn nirgendwo sonst zeitigte die Skepsis gegenüber dem Raumdenken eine solche - auch politisch aufgeladene - Ablehnung, so dass sich ein seltsames Dispositiv im geographischen Denken etablierte: über Raum soll nur gesprochen oder geschrieben werden, wenn er nicht als solcher Auftritt, sondern nur im Gewand von Zeichen, Verweisungen oder Diskursen.
Demgegenüber gilt es, Raum tatsächlich als räumliches Phänomen und damit als das zu thematisieren, was er ist und wie er dem Humanen erscheint: als je subjektiv erfahrene objektiv-materielle Ding-Welt und soziale Umwelt, ohne dessen Erfahrung und Erfahrbarkeit kein menschliches Lebewesen denk- und konzipierbar ist. Raum ist u.a. (sozio‑)materielle Ko-Welt der Subjekte, über dessen ‘In-der-Welt-Sein’ (Heidegger) Raumerfahrung überhaupt erst möglich wird; er ist ebenso vorsprachlich erfahrene Dimensionalität der materiellen und sozialen Umwelt, die erst in späteren Schritten interpretativ (zeichenhaft) ausgedeutet und ausgehandelt wird (Srubar); er ist auch das vorgängig Reale dieser Weltexistenz, dessen sich das Subjekt erst bemächtigen muß, um überhaupt Raum denken und kognitiv verarbeiten zu können (Piaget), wie ebenso machtvoll gestalten zu können ‘gegen’ und über andere Spezies ‘hinaus’ (Plessner). Ohne Raum kein Mensch und keine Menschhaftigkeit, so könnte man sagen, denn ohne ‘being in places’ (Seamon) keine - weil sonst Referenz- und koordinatenlose - subjektive Existenz, ohne ‘Einwohnen’ (Merleau-Ponty) keine Anverwandlung schnöder Molekularität in subjektiviertes Wohlfühlen (Bachelard).
In Anbetracht dieser Krise des Raumdenkens gilt es, diese realen Dimensionen des Räumlichen wieder in die Theoriebildung einzubinden, damit weite Teile der Humangeographie nicht mehr sprachlos vor dem Raum stehen, da sie keine Begriffe mehr hat, ihn zu thematisieren denn als bloße ‘Semantik’ (Luhmann) oder ‘machtvollen Diskurs’ (NKG). Es gilt, diese Dimensionalität und Materialität jedweder irdischen Existenz wieder in den Fokus zu rücken, um das spezifisch Menschliche auch und gerade in seiner anthropologischen Dimension daran herauszustreichen, seien es Atmosphären, Naturbezüge, Entfremdungen oder Ortsverluste.
Die Fachsitzung fragt deshalb Beiträge an, die sich dieser disziplinären Krisis stellen möchten und empirische wie konzeptionelle Vorschläge zum anthropologisch-planetaren Raum unterbreiten möchten.