Das Lied der Geschöpfe lernen: Zum Potenzial des Latourschen Ansatzes der Existenzweise [REL] für die Religionsgeographie

Vortrag
Sitzungstermin
Mittwoch (20. September 2023), 11:00–12:30
Sitzungsraum
SH 2.107
Autor*innen
Jakob Siegel (Bonn)
Kurz­be­schreib­ung
Was Bruno Latour [REL] nennt, hat das Potenzial, Menschen und ihre Beziehungen zu Welt zu verändern: Die Verschiebung des Fokus von materiellen bzw. diskursiven Ausformungen des Religiösen hin zu religiösen Existenzweisen eröffnet eine epistemologische und ontologische Weitung des Blicks auf lebendige Wesen.
Schlag­wörter
Ontologien, Religionsgeographie, Anthropozän, Mensch-Umwelt-Beziehungen

Abstract

„Demokratie braucht Religion“ konstatiert Hartmut Rosa in seinem kürzlich erschienenen Buch (Rosa 2022) – braucht auch Ökologie Religion? Die Schriften Bruno Latours beantworten diese Frage mit einem deutlichen ‚ja!‘. Ökologie ist mehr als hierarchisierte Referenzketten von Informationen und das Religiöse ein wichtiger Baustein bei der Bemühung eines Wechsels des Betriebssystems, eines Landing On Earth.

Latours Schriften werden innerhalb der deutschsprachigen Geographie bisher vor allem in den sogenannten more-than-human Geographies sowie in Bereichen, die an die Science and Technology Studies angrenzen, rezipiert. Dieser Beitrag nimmt die Auseinandersetzung Latours mit dem Religiösen vor dem Hintergrund der ökologischen Krise in den Blick und fragt, wie (Religions)geographie an Latours Aussagen zu religiöser Rede (Latour 2016) und religiöser Existenzweise [REL] (Latour 2018) anschließen kann. Das Religiöse, so die These, kann in geographischer Forschung mehr sein, als der sozialwissenschaftliche Blick auf religiös geprägte Strukturen, Institutionen und Diskurse.

Dies wird anhand zweier Aspekte verdeutlicht: Zum einen ermöglicht das Modell der Existenzweisen ein epistemologisches Fassen religiöser Rede, die nicht als Übermittler von Informationen fungiert, sondern als „Träger von Wesen […], die fähig sind, diejenigen zu erneuern, an die sie gerichtet sind.” (Latour 2018, 419). Religiöse Worte stillen nicht den Wissensdurst, sie verwandeln ihre Adressaten; sie überliefern keinen Informationsgehalt, sondern bringen neue Behälter (Latour 2016, 49). Eine solche Verwandlung ist eine Notwendigkeit, wenn „anstatt zu modernisieren, es sich nunmehr empfiehlt, zu ökologisieren […]“. (Latour 2018, 643)

Zum anderen betritt man mit Latours Theorie einen Raum, in dem die ontologische Grundlage für eine Existenz über die „erkannten Dinge“ hinaus gegeben ist: Es gibt nicht zwei Welten, die des Übernatürlichen, Religiösen auf der einen, und die des Immanenten und Materiellen auf der anderen Seite – es gibt nur eine Welt mit lauter „unnatürlichen Wesen […], alle leicht transzendent im Verhältnis zur vorhergehenden Etappe entlang ihrem besonderen Weg.” (Latour 2018, 302) Unter dieser Prämisse bekommen (religiöse) Texte, die nicht verdinglichte, sondern lebendige Beziehungen zu Welt beschreiben, wie beispielsweise der Gesang der Geschöpfe des Hl. Franziskus von Assisi, von neuem eine Stimme.

Literatur:

Latour, Bruno. 2016. Jubilieren: Über religiöse Rede. Berlin: Suhrkamp.

Latour, Bruno. 2018. Existenzweisen: Eine Anthropologie der Modernen. Berlin: Suhrkamp.

Rosa, Hartmut. 2022. Demokratie braucht Religion: Über ein eigentümliches Resonanzverhältnis. München: Kösel.