„Demokratie als Lebensform": Demokratische Deliberation in der postmigrantischen Gesellschaft

Vortrag
Sitzungstermin
Freitag (22. September 2023), 16:30–18:00
Sitzungsraum
SH 1.104
Autor*innen
David Spenger (FAU Erlangen-Nürnberg)
Kurz­be­schreib­ung
Dieser Beitrag setzt am kürzlich begonnenen Dialog zwischen Flucht-/Migrationsforschung und Demokratieforschung an und diskutiert Ansätze von demokratischer Deliberation in einer postmigrantischen Gesellschaft.

Abstract

Demokratietheoretische Ansätze waren lange Zeit darauf ausgerichtet, die jeweils nationale Staatsbürgerschaft als Vorbedingung für die Teilhabe am demos anzunehmen. Damit wird Drittstaatsangehörigen a priori das Recht auf politische Teilnahme verwehrt und werden ihre Möglichkeiten der Einflussnahme auf den Prozess der demokratischen Meinungsbildung und Entscheidungsfindung stark eingeschränkt. Der Lebensalltag von Drittstaatsangehörigen im Allgemeinen und Geflüchteten im Besonderen ist darüber hinaus häufig massiv aufenthaltsrechtlich überprägt, was mit einer Handlungsohnmacht in Bezug auf Wohnen, Arbeit oder Bildung verbunden ist. Verschärft wird diese durch strukturelle Exklusionsprozesse wie Diskriminierung oder die fehlende Anerkennung von Berufs- und Bildungsabschlüssen (Kordel et al. 2022).

In einer postmigrantischen Gesellschaft (Foroutan 2018, Wiest 2019), also einer Gesellschaft, die intensiv mit historischen und aktuellen Migrationsprozessen verwoben ist, muss die Frage nach demokratischer Partizipation neu gestellt werden. Während dieser Befund als ‚common sense‘ in der Migrationsforschung betrachtet werden kann, ist dennoch eine erstaunlich große Zurückhaltung in Bezug auf die Verbindung von Migrations- und Demokratieforschung zu beobachten und entsprechende Arbeiten sind erst im Entstehen begriffen (Gebhardt et al. 2022). Dieser Beitrag versteht sich als Werkstattbericht, der eine demokratietheoretische Annäherung an plurale, super-diverse Gesellschaften (Vertovec 2007) unter Einbezug von postmigrantischer Agency diskutieren möchte. Die nationale Staatsangehörigkeit wird nicht als Prämisse für politische Teilhabe vorausgesetzt, sondern es werden diskursethische Prinzipien (Habermas 1992) in Debatten um Zugehörigkeit und Inklusion hervorgehoben. Als zweiter Eckpfeiler dieser Herangehensweise werden ungleiche (historische) Machtverhältnisse und Abhängigkeiten in den Blick genommen, wie sie von Vertreter:innen von Ansätzen der radikalen Demokratie formuliert wurden (Laclau & Mouffe 2001[1985]). Diese Forderung nach demokratischer Deliberation ist zwangsläufig normativ und hat demnach auch die Aufgabe, im Sinne einer Ethik der Begegnung, das heißt einer grundsätzlichen Möglichkeit der Identifikation mit dem Anderen (Mbembe 2021/2010]), zur Dekolonialisierung von gesellschaftspolitischen Debatten auf verschiedenen Maßstabsebenen beizutragen. Damit werden Fragen der Subjektivierung von Drittstaatsangehörigen bzw. Geflüchteten in den Fokus gerückt, die einerseits Partikularitäten berücksichtigen und andererseits Teilhabe und Mitbestimmung in den Bereichen Wohnen, Arbeit, Bildung, Gesundheit oder zivilgesellschaftliches Engagement ermöglichen.