Die Stuttgarter Kosmologie

Vortrag
Sitzungstermin
Donnerstag (21. September 2023), 14:30–16:00
Sitzungsraum
SH 3.104
Autor*innen
Indrawan Prabaharyaka (Humboldt-Universität zu Berlin)
Kurz­be­schreib­ung
Dieser Aufsatz befasst sich mit dem Dilemma der Konkurrenz zwischen Stadtklimatologie (der Erhaltung der Frisch- und Kaltluft in der Stadt) und Stadtentwicklung (dem Bauen neuer Wohn- und Geschäftshäuser). Das Dilemma der Konkurrenz zwischen Stadtklimatologie und Stadtentwicklung in diesen beiden Kontroversen, so argumentiere ich, lässt sich besser kontextualisieren, wenn man die spezifische Kosmologie der Luftzirkulationbetrachtet, in der ein Erhalt von Stadtgebieten oder ein Tabubruch in diesen nur mit einer “Zeit-Raum-Maschine” möglich ist.

Abstract

Dieser Aufsatz befasst sich mit dem Dilemma der Konkurrenz zwischen Stadtklimatologie (der Erhaltung der Frisch- und Kaltluft in der Stadt) und Stadtentwicklung (dem Bauen neuer Wohn- und Geschäftshäuser).

Hierzu wird die Rechtsgeographie zweier Kontroversen um die Erhaltung von Luftschneisen in Stuttgart und seinem Ballungsraum untersucht. Die erste Kontroverse spielt sich am Stadtrand ab. Dort, in der zweitteuersten Stadt Deutschlands, gemessen an den Bodenpreisen, werden große Flächen für Bauprojekte gesucht. Seit zwei Jahrzehnten setzt sich eine Schutzgemeinschaft für den Erhalt der ursprünglichen Gestaltung ihrer (welche? gekaufte, eigene, angenommene,…) Flächen ein, damit die Luft von dort ungehindert in die Innenstadt strömen kann. Ich stelle hier vor, wie sie 2010 in einem Rechtsstreit gegen den Bau von sieben Häusern verloren, der durch eine juristische “Archäologie” eines Bebauungsplans aus der NS-Zeit von 1942 legitimiert wurde.

Im Gegensatz zur ersten Kontroverse begann die zweite Kontroverse vor kurzem und findet immer noch im Stadtzentrum statt. Sie betrifft die Renovierung der mehr als 100 Jahre alten Staatsoper von Stuttgart. Die Debatte über die Renovierung gibt es schon seit mehr als einem Jahrzehnt, aber erst in den letzten Jahren hat sie sich aufgeheizt. Zum einen geschah dies wegen des exorbitanten Budgets das hierfür bereitgestellt wurde und zum anderen wegen der Herausforderung, einen Standort für eine Interimsoper zu finden, der die Frischluftschneisen in Stuttgart nicht behindert, wie es der Rahmenplan Halbhöhenlagen, ein informelles Rechtsinstrument, vorschreibt. Ich schildere die aktuelle Entwicklung dieser Kontroverse, zeige die Auseinandersetzungen zwischen Stadtklimatologen und Architekten auf und wie sie schließlich eine Übergangslösung gefunden haben. Das Dilemma der Konkurrenz zwischen Stadtklimatologie und Stadtentwicklung in diesen beiden Kontroversen, so argumentiere ich, lässt sich besser kontextualisieren, wenn man die spezifische Kosmologie der Luftzirkulationbetrachtet, in der ein Erhalt von Stadtgebieten oder ein Tabubruch in diesen nur mit einer “Zeit-Raum-Maschine” möglich ist.

In der Stuttgarter Kosmologie spricht man davon, wie wichtig die Zirkulation von frischer und kalter Luft ist. Die Kaltluftentstehungsgebiete der Stadt und die geografischen Bahnen, durch die diese Luft strömt (auch genannt: Kaltluftschneise, Frischluftschneise, Frischluftzufuhr, Kaltluftströmung), dürfen angeblich nicht bebaut werden. Sie sind sogenannte Tabuflächen. Insgesamt wurden diese Räume von Stuttgart durch eine Zeit-Raum-Maschine gesteuert.: Einerseits werden sie durch die Tradition des Bauverbots bewahrt und andererseits bekommen sie eine zukünftige Dimension indem sie nach einer Zeitstufenliste geordnet werden.