Die Unsichtbarkeit des Politischen: Neoliberale Vereinnahmung widerständiger Praktiken in Bilbao

Vortrag
Sitzungstermin
Mittwoch (20. September 2023), 11:00–12:30
Sitzungsraum
HZ 7
Autor*innen
Le-Lina Kettner (Universität Münster)
Kurz­be­schreib­ung
Wenn transformative, partizipative Anliegen neoliberal vereinnahmt werden, kann ein kritischer Perspektivwechsel weiterhin politische Momente sichtbar machen. Dieser Beitrag soll die Bedeutung der Verwobenheit nachhaltiger und nicht-nachhaltiger Räume an einem Beispiel aus Bilbao zeigen.

Abstract

Im Rahmen der sozial-ökologischen Transformation rücken zuletzt Ansätze, die Gemeinschaft und solidarische Wirtschaftsweisen fördern, in den Vordergrund. Dabei zeigt sich vermehrt, dass die Dekonstruktion des kapitalozentrischen Diskurses durch bottom-up-Initiativen und soziale Bewegungen misslingt. Mehr noch, sie erscheinen zunehmend als verwertbar für neoliberale Stadtpolitiken (Community Capitalism). Ein Beispiel hierfür stellt die “Aste Nagusia” in der baskischen Metropolregion Bilbaos dar: Das Fest wurde von zivilgesellschaftlichen Gruppen ursprünglich als Gegenmodell zu herkömmlichen Volksfesten ins Leben gerufen. Ihre Kritik zielte darauf ab, die Kommerzialisierung von Kultur und öffentlichem Raum anzuprangern und ein partizipatives Festmodell zu etablieren. Doch mit 6 Mio. Besucher:innen verwandelt es den Alltag der Stadt jedes Jahr für neun Tage in einen Ausnahmezustand des Konsums und ist heute zu einem relevanten Wirtschaftsfaktor für eine wachstumsorientierte Politik geworden.

Diese vermeintliche Vereinnahmung politischer Artikulation ist Gegenstand meines Beitrags, der diese Diagnose als zu vorschnell herausarbeitet. Die Umsetzung der Festwoche in Bilbao durch die politischen Gruppen ist von solidarischen Praktiken, Selbstbestimmung und Gemeinschaftsgefühl geprägt, die jedoch selten als explizit antikapitalistisch oder aktiv als politisch markiert werden. Meine ethnographischen Zugänge zeigen, wie diese Unsichtbarkeit räumlich und zeitlich versetzt eine transformative Bedeutung entfaltet: Das Stadtfest ist eng mit solidarökonomischen Lebensformen an anderen Orten verknüpft. Für viele Praktiken, die sich verwertbaren Zwecken entziehen, wie Umweltbewegungen oder alternative Wohn- und Kulturprojekte, ist das Stadtfest und das Loslassen der politischen Artikulation konstitutiv. Hier wird ein Raum hervorgebracht, der zwar selbst der Verwertung untergeordnet ist, aber dennoch für die politische Subjektivierung existentiell ist. Das Verfolgen solcher Verkettungen kann die Relevanz von unterschiedlichen Formen des Ökonomischen und des Widerständigen sichtbar und wertschätzbar machen.