Eine Differenzierung der Stadt-Land Dichotomie: Ein wahrscheinlichkeitsbasierter Ansatz

Vortrag
Sitzungstermin
Donnerstag (21. September 2023), 09:00–10:30
Sitzungsraum
SH 1.108
Autor*innen
Hannes Taubenböck (DLR)
Ariane Droin (DLR)
Ines Standfuß (DLR)
Monika Gähler (DLR)
Antonia Milbert (BBSR)
Nikola Sander (Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung)
Silas Eichfuss (BBSR)
Fabian Dosch (BBSR)
Michael Wurm (DLR)
Kurz­be­schreib­ung
Es wird ein neuer wahrscheinlichkeitsbasierter Ansatz zur Klassifizierung Deutschlands in „urban“, „ländlich“ und einen „nicht eindeutigen Übergangsbereich“ präsentiert. Das Raumbild löst sich von der dichotomen Vorstellung und fördert eine neue Debatte über städtische und ländliche Räume.
Schlag­wörter
Raumstruktur, Raumtypisierung, Urbanisierungsgrad, Fernerkundung

Abstract

Gängige Vorstellungen von Stadt und Land zeugen von den intuitiven Konnotationen, die mit diesen Terminologien verbunden sind. Wenn man sich auf die räumliche und statistische Unterteilung der Landschaft in diese beiden Klassen einlässt, ist aber nichts so eindeutig: Eine allgemein akzeptierte Herangehensweise, wie „urban“ und „ländlich“ konzeptionell, datentechnisch und methodisch zu fassen sind, gibt es nicht (Taubenböck et al. 2022). In diesem Beitrag werden diese Uneindeutigkeiten systematisiert und unterschiedliche Ansätze und Schwellenwerte kombiniert, um daraus eine differenziertere, wahrscheinlichkeitsbasierte Bewertung des Urbanisierungsgrades für Deutschland zu ermöglichen. Neben internationalen Einwohner-Schwellenwerten der Urbanisierung (UN 2020), angewendet auf die administrative Gemeindeebene in Deutschland, werden die Gebäudedichte, Bevölkerungsdichte und der Anteil von Mehrfamilienhäusern auf 100 mal 100 Meter Gridzellen als Kriterien getestet. Auch hier werden unterschiedliche Schwellenwerte und ihre Effekte auf den Urbanisierungsgrad systematisch untersucht. Auf dieser Basis beruht der wahrscheinlichkeitsbasierte Ansatz, a priori keine Festlegung über richtige Schwellenwerte, Raumeinheiten oder Parameter zu treffen. Stattdessen werden alle oben dargelegten Ansätze und Schwellenwerte einbezogen und daraus Wahrscheinlichkeiten für die Klassen „urban“ oder „ländlich“ berechnet. Je öfter eine Raumeinheit als „urban“ klassifiziert wird, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie als „urban“ gelten kann. Die Wahrscheinlichkeiten werden in eine dreiteilige Klassifizierung verdichtet, d. h. eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, „urban“ oder „ländlich“ zu sein, sowie ein „nicht eindeutig klassifizierter Übergangsbereich“. Nach diesem Ansatz können 2% der Landfläche Deutschlands, auf der 50% (41,6 Millionen) der Bevölkerung leben, als eindeutig „urban“ ausgewiesen werden. 32% der Fläche mit knapp 4 Millionen Einwohnern (4,7%) wiederum sind eindeutig dem ländlichen Raum zuzuordnen. Die 66% der Fläche bzw. die 45,3% (37,7 Millionen) der Bevölkerung zwischen diesen eindeutigen Zuordnungen könnten anhand von Quantilen der Unsicherheiten weiter unterteilt werden, so dass weitere 18,1% der Bevölkerung eher zu den „Städtern“ und 12,6% entsprechend eher zu den „Landbewohnern“ gezählt werden können. 14,6% der Bevölkerung sind genau zwischen diesen Polen anzusiedeln. Je nach Kombination und Beschränkung nur auf grid-basierte Daten ergeben sich leicht abweichende Prozentwerte der Zuordnung nach „urban“, „ländlich“ und für den Übergangsbereich. Mit 50 bzw. 68% ist der Urbanisierungsgrad nach diesem Ansatz nicht nur geringer als üblicherweise angegeben und akzeptiert (vgl. z.B. Destatis 2020, UN 2020, Eurostat 2021), sondern das Raumbild ist differenzierter und stellt eine Grundlage für eine neue Debatte über städtische und ländliche Räume dar.