Entkernen oder schälen? Moderne-Verhältnisse der aktuellen humangeographischen Theorie

Vortrag
Sitzungstermin
Freitag (22. September 2023), 16:30–18:00
Sitzungsraum
HZ 5
Autor*innen
Tilo Felgenhauer (PH Oberösterreich)
Kurz­be­schreib­ung
Der Beitrag versucht eine abwägende Bewertung des Nutzens des Moderne-Begriffes für die Humangeographie: einmal durch eine Rezeption jüngerer gesellschaftstheoretischer Deutungen des Begriffes "Moderne", andererseits durch das Aufweisen von weiterhin implizit relevanten Bedeutungselementen des Moderne-Begriffes im eigentlich modernekritischen Diskurs der Humangeographie.

Abstract

Die Moderne als Diskurshorizont ist im theoretischen Diskurs der Humangeographie in den letzten Jahren in den Hintergrund geraten. Postmoderne, Poststrukturalismus und andere Strömungen haben die Moderne gewissermaßen performativ durch einen Themenwechsel verdrängt, sie aber auch immer wieder explizit kritisiert. Im letzteren Fall steht Moderne dann oft recht pauschal für „Rationalismus“, „Fortschrittsglaube“, „Kolonialismus“, „Eurozentrismus“, „Maskulinismus“ und epistemologisch für ein zu überwindendes dualistisches Denken (Geist/Materie u.a.). Konzepte, die es mittels neuer pluralistischer und hybrider Kategorien und Denkweisen zu überwinden gilt.

Aber wie disruptiv muss diese Überwindung sein? Wie stichhaltig ist Kritik am – philosophischen, nicht historischen – Moderne-Begriff heute? Die Moderne hat sich in der Gesellschaftstheorie in eine „Spätmoderne“ (Anthony Giddens), eine „luiqid Modernity“ (Zygmunt Bauman) und eine „zweite“ bzw. „reflexive Moderne“ (Ulrich Beck) verwandelt, wird dort also genau nicht verabschiedet und „überwunden“, sondern neu gedacht. Die Gesellschaftstheorie versteht Moderne nicht mehr primär als historischen Epoche-Rahmen, der die negativen Folgen der Aufklärung versammelt (s.o.). Stattdessen bleibt die Moderne im Kern durchaus ein Vernunftdenken, aber als ein Denken der Selbstbefragung, im Gegensatz zur klassischen Moderne: langsam, reflexiv, innehaltend, fragend. So gelesen wirkt der Moderne-Begriff theoretisch weit zeitgemäßer als es im aktuellen Diskurs erscheint.

Umgekehrt mobilisieren aktuelle (humangeographische) Paradigmen, die sich von der Moderne distanzieren, immer wieder implizit klassisch-moderne Denkfiguren. So lässt sich das „Ende der Meta-Erzählungen“ auch nur mittels des vielfach kritisierten, modernen „Blicks von nirgendwo“ (Thomas Nagel) konstatieren. Titel wie „Wir sind nie modern gewesen“ (Bruno Latour) klingen in ihrer Universalität und dem kühnen Gestus nach erstaunlich klassisch-modern. Auch reproduziert jede Rhetorik der Überwindung unvermeidlich eine (moderne) Fortschrittsidee. Und die Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen kommt nicht mit einer simplen Empirie des Aufdeckens und Anprangerns aus, sondern basiert auf der klassisch-modernen Form des Arguments, der Idee des kritischen Zweifelns und führt am Ende zu Vernunft und Moral zurück.

Aus der Erkenntnis, dass klassisch-moderne Denkweisen hier immer wieder durchscheinen, folgt aber genau nicht die Forderung nach einer noch radikaleren Reinigung aktueller Geographien von klassisch-modernen Denkweisen, sondern die Einsicht, dass wir Bausteine des klassisch-modernen Denkens weiterhin brauchen - auch wenn Kontinuitäten natürlich langweiliger erscheinen als Disruptionen.