Gefährliche Orte: Die räumliche Lebenswelt der Betroffenen von anlassunabhängigen Personenkontrollen

Vortrag
Teil der Sitzung
Sitzungstermin
Mittwoch (20. September 2023), 09:00–10:30
Sitzungsraum
SH 0.101
Autor*innen
Roman Thurn (Neufahrn)
Kurz­be­schreib­ung
Der Beitrag rekonstruiert die Produktion sozialen Stigmas im Kontext von polizeilichen Personenkontrollen an sogenannten Gefährlichen Orten. Eine Ursache hierfür identifiziert er in den abweichenden symbolischen Gehalten der Räume, wie sie Polizei und Betroffene konstruieren.

Abstract

Den deutschen Landespolizeien ist es möglich, an sogenannten Gefährlichen Orten ohne einen konkreten Anlass Personen zu kontrollieren. Die Polizei kann an diesen Orten die Identitäten der jeweiligen Betroffenen feststellen sowie sie und ihre Sachen durchsuchen. Die Polizei verfügt über die Definitionsmacht (Feest und Blankenburg 1972) entlang ‚tatsächlicher Anhaltspunkte‘ oder jeweiliger ‚Lageerkenntnisse‘ Räume als Gefährliche zu auszuweisen. Die vermeintlich tatsächlichen Anhaltspunkte sind jedoch häufig geleitet von Stereotypien und Mythen über (Armuts‑)Kriminalität, die Ergebnisse von Self-Fulfilling Prophecies in Bezug auf Betäubungsmitteldelikte und ihre Kontrolle, oder bedingt durch die Beschwerden vergleichsweise mächtiger Akteure. Die Polizei verdinglicht diese raumspezifischen Konstruktionen der Kriminalität in der Polizeilichen Kriminalstatistik, die ihrerseits von Kommunal- und Landespolitik herangezogen, um kriminalpräventive und sicherheitspolitische Maßnahmen zu legitimieren.

Diese polizeilichen Repräsentationen des Raums (Lefebvre 1972) divergieren vom symbolischen Gehalt, den die je Betroffenen von ihrer Lebenswelt konstruieren. Die Kontrollen treffen häufig marginalisierte Gruppen – deren Vergehen häufig weniger in gefährlichen Handlungen besteht, als darin, von Ordnungsvorstellungen der Mittelschicht abzuweichen Für sie sind diese Orte seltener im engeren Sinn gefährlich, als vielmehr unhinterfragter Bestandteil des Alltags, des Transits oder Konsums, oder schlicht der Vergemeinschaftung. Ihnen erscheinen die Kontrollen daher als invasiv: Die Betroffenen fühlen sich in denjenigen Räumen, in welchen sie sich ‚sicher‘ fühlen oder fühlen wollen, verdächtigt und kriminalisiert – sie fühlen sich stigmatisiert. Das Stigma ist jedoch keineswegs bloß Gefühl: Es ist soziale Identität (Goffman 1963).

In diesem Beitrag soll gezeigt werden, dass die Divergenz der polizeilichen Repräsentationen des Raums von denen der Betroffenen eine stigmatisierende Wirkung entfaltet: Die Normalität der einen ist die Devianz der anderen. Erst aus der Analyse dieser Divergenz heraus lassen sich räumliche Praktiken der Stigmatisierung begreifen. Dies soll entlang von Interviews entwickelt werden, welche sowohl mit Polizeibeamt*innen als auch mit Betroffenen geführt wurden. In ihnen zeigen sich die voneinander abweichenden symbolischen Gehalte des Raums, welche die Ursache des räumlichen Stigmas – der Beschreibung eines Ortes als gefährlich – sind.