Geographien der Souveränität neu denken: Von staatlicher zu situierter Souveränität

Vortrag
Sitzungstermin
Freitag (22. September 2023), 11:00–12:30
Sitzungsraum
SH 2.107
Autor*innen
Marco Pütz (Eidgenössische Forschungsanstalt WSL)
Bastian Lange (Universität Leipzig; Multiplicities Berlin)
Bianca Herlo (UDK Berlin)
Kurz­be­schreib­ung
Wir schlagen ein Konzept situierter Souveränität vor, das über etablierte Formen staatlicher, territorial definierter Souveränität hinaus geht. So können wir Praktiken des Souveränitäts-Machens erkennen, mit denen Städte und Regionen in Zeiten multipler Krisen handlungsfähig bleiben können.

Abstract

Mit der sich wandelnden Rolle des Staates verändern sich auch die Geografien der Souveränität ständig. Globalisierungs- und Regionalisierungsprozesse illustrieren das seit langem. In jüngerer Zeit sind es vor allem die internationale Migration, die Finanzkrise, die Digitalisierung, der Umgang mit dem Klimawandel oder Reaktionen auf die COVID-19-Pandemie, die uns dazu bringen, neue raumbezogene Konfigurationen von Souveränität zu erkennen und bestehende Souveränitätskonzepte zu überdenken. Eine grundlegende Herausforderung für Gemeinden, Städte und Regionen besteht darin, selbstbestimmt und souverän handeln zu können, d.h. Handlungsspielräume zu erhalten und zu schaffen, um gegenwärtige und zukünftige Herausforderungen zu meistern. Die sich verändernden Geographien der Souveränität verstehen wir als Prozesse des Souveränität-Machens im digitalen Zeitalter, die situativ und lokal-spezifisch sind.

Wir führen den Begriff der situierten Souveränität als heuristischen Rahmen für Praktiken, die von situativen Umständen geleitet werden, ein. Es geht darum, informelles, kollaboratives, ad-hoc- und interventionistisches Handeln besser zu verstehen. Situierte Souveränität ist für uns praxisbasiertes kollaboratives Handeln, das durch sozialräumliche Situiertheit und kollektive Sinnstiftung außerhalb formalisierter, demokratisch legitimierter Institutionen gekennzeichnet ist. Dabei sind Konzepte der Handlungsfähigkeit, der Handlungskapazitäten oder des Empowerments von grosser Bedeutung für das Verständnis der Praxis von Souveränität. Da es bei der Souveränität darum geht, Akteure in die Lage zu versetzen, Entscheidungen im kollektiven Interesse zu treffen, ist die Ausübung von Souveränität in hohem Maße situationsabhängig. Konzeptionell entwickeln wir unser Konzept von situierter Souveränität entlang verschiedener Stränge der wissenschaftlichen Literatur, die bisher wenig miteinander diskutiert wurden: Policy- und Governance-Forschung, Science and Technology Studies, Digitalisation Studies, Praxis- und Pragmatismus-Forschung, sowie Humangeographie. Wir identifizieren drei konzeptionelle Felder, die die gegenwärtige Praxis der Souveränität bestimmen: (i) Räumbezüge, (ii) bürgerschaftliches Engagement und (iii) Digitalisierung.

Unser Interesse liegt in der Erforschung lokaler und regionaler Praktiken der Selbstorganisation, des bürgerschaftlichen Engagements oder des Bewältigens lokaler Herausforderungen (z.B. Wohnen). Das Verständnis des «Machens» von Souveränität hilft dabei, Souveränitätspraktiken oder Planung- und Beteiligungsverfahren zielgerichteter gestalten zu können. In dieser Hinsicht ist Souveränität als Konzept nie territorial begrenzt oder fix, sondern dynamisch, beweglich und fließend und muss immer wieder an neue Situationen angepasst werden.