“His dead body is in the water right now”: Tod und (Über-)Leben in europäischen Grenzräumen
Abstract
Mindestens 17 Flüchtende erfroren im Winter 2021 im Grenzraum zwischen Polen und Belarus, im Jahr 2022 ertranken mindestens 2000 Tote bei havarierten Schlauchbooten im Mittelmeer, gefolgt von 28 Toten und zahlreiche Vermissten nach einer Massenpanik in der spanischen Exklave Melilla im Juni 2022: Tod und (Über‑)Leben manifestieren sich in europäischen Grenzräumen auf unterschiedliche Art und Weisen. In den Blick der Öffentlichkeit geraten sie üblicherweise erst dann, wenn ein massenhaftes Auftreten oder ein besonders schockierendes Ereignis dieser Todesfälle verzeichnet wird. In wissenschaftlichen Diskursen werden die Bedingungen von Tod und (Über‑)Leben in europäischen Grenzräumen zwar thematisiert, doch nur selten explizit und empirisch überprüft.
Im Rahmen des Beitrags werden die Bedingungen von Tod und (Über‑)Leben entlang der sogenannten Balkanroute fokussiert. Dabei werden staatlich organisierte Gewaltordnungen und die dafür zugrunde liegenden Techniken des Regierens thematisiert. Anhand empirischer Daten werden daran anschließend die Auswirkungen dieser menschenrechtswidrigen Praxis, aber auch Bewältigungsstrategien aus der Perspektive von Flüchtenden diskutiert. Der Beitrag stützt sich auf Forschungsaufenthalte im Winter 20/21, Winter 21/22 und im März 2023 an den EU-Außengrenzen in Bosnien und Serbien, bei denen verschiedene qualitative und ethnographische Forschungsmethoden angewandt wurden.
Wie das Zitat im Titel hervorhebt, kann beispielsweise die Durchquerung von (Grenz‑)Flüssen, insbesondere für Nichtschwimmer*innen, zu einem tödlichen Unterfangen werden. Hierbei entstehen weiterführende Fragen bezüglich Suche und Bergung von toten Körpern in Sperrgebieten sowie die Rückführung von Leichen in Herkunftsorte, die im Rahmen des Beitrags diskutiert werden. Vor diesem Hintergrund wird sich ein wesentlicher Teil des Beitrags mit der Bedeutung von Naturräumen und „grünen Grenzräumen“ als Orte des Todes und des Leidens befassen, in die Flüchtende gedrängt werden. Die Rolle der staatlichen Gewalt an den EU-Außengrenzen wird dabei durch eine Reihe elementarer „Naturgewalten“ abgelöst, denen sich Schutzsuchende bewusst aussetzen, da dies der erfolgsversprechende Weg zu sein scheint, um den staatlich organisierten Gewalt- und Immobilisierungsstrategien zu entgehen. Die Naturgewalten konstituieren sich dabei unter anderem aus der Geländebeschaffenheit (abgelegene Wald- und Bergregionen in der freien Natur), Witterungsbedingungen (z. B. extreme Kälte, Schneefall), wilden Tieren oder auch natürlichen Barrieren (z. B. Flüsse). Die Durchquerung dieser „weaponized landscapes“ ist oftmals mit erheblichen Verletzungen verbunden, die im Extremfall auch zum Tod der Schutzsuchenden führen können.