Home-made citizenships: Mikronationen als Laboratorien alternativer Nationenbildung

Vortrag
Sitzungstermin
Freitag (22. September 2023), 16:30–18:00
Sitzungsraum
SH 1.104
Autor*innen
Sandra Petermann (JGU Mainz)
Kurz­be­schreib­ung
Mikronationen (re)produzieren und (de)konstruieren nationalstaatliche Vorstellungen von Staatsangehörigkeit und Territorialität, stellen nationalstaatliche Normen in Frage und fordern etablierte Sichtweisen der Makrogesellschaft auf unterschiedlichste Weise heraus.

Abstract

Mikronationen, auch Cryptarchien oder Mikropatrias genannt, weisen zwar laut Montevideo Konvention von 1933 die Merkmale eines legitimen Staates auf und verfügen über nationale Symbole wie Fahnen, Pässe und Briefmarken, werden rechtlich aber nicht als souveräne Staaten anerkannt. Ihre Staatsgebiete reichen von Wohnungen der Regent*innen über Kommunen bis hin zu beanspruchten Gebieten im Niemandsland, in der Antarktis, auf den Weltmeeren, im Weltall oder im Cyberspace. Die Anzahl der mikronationalen Bürger*innen variiert von einigen wenigen Personen (Ambulatory Free State of Obsidia/USA) bis hin zu über 28.000 (Ladonia/Schweden). Die Staatsbürgerschaften können in der Regel unbürokratisch und innerhalb weniger Tage erworben werden, sind frei wählbar, fluide und multiple. Gegenwärtig existieren rund 400 Mikronationen vor allem in Ländern des Globalen Nordens, die aus sehr unterschiedlichen Motiven gegründet wurden. Die Beweggründe reichen von Langeweile, Spaß und Alltagsflucht über das Erfahren von Anerkennung, Gemeinschaft und Selbstwirksamkeit bis hin zu Unzufriedenheit und Widerstand gegen den Makrostaat und Visionen eines anderen, besseren Lebens. Mikronationen repräsentieren somit die Vorstellungen, Bedürfnisse und Werte ihrer Gründer*innen. Gleichzeitig können sie als Gegenorte zur Makrogesellschaft oder gelebte Utopien verstanden werden, die durch ihr Infragestellen nationalstaatlicher Normen in Punkto Territorialität und Staatsangehörigkeit die Makrogesellschaft herausfordern. Obwohl medial inzwischen viel thematisiert, sind Mikronationen bislang (abgesehen von wenigen Ausnahmen wie Hayward 2016, Hobbs und Williams 2022, Moreau 2014, Steinberg und Chapman 2009) kaum Gegenstand von wissenschaftlichen Auseinandersetzungen.

Basierend auf qualitativen Interviews, teilnehmenden Beobachtungen und Dokumentenanalysen wird der Vortrag zeigen, welche Formen von Territorialität und Staatsangehörigkeit in Mikronationen (re)produziert und (de)konstruiert werden und inwiefern Mikronationen als Laboratorien alternativer Nationenbildung fungieren.

Hayward, P. (2016): Islands and Micronationality (v2) In: Shima: The International Journal of Research into Island Cultures. DOI: 10.21463/shima.im.anth.int

Hobbs, H. und G. Williams (2022): Micronations and the Search for Sovereignty. Cambridge.

Lessen, J. van und S. Petermann (2021): Peripheries – Playgrounds of Society. In: img journal 5 (Imaging peripheries): 216-237. DOI: 10.6092/issn.2724-2463/12863

Moreau, T. (2014): Subversive Sovereignty. Parodic Representations of Micropatrias Enclaved by the United Kingdom. PhD Thesis. London.

Petermann, S. (2019): Mikronationen – von Königen, Exzentrikern und Weltverbesserern. In: Geographische Rundschau 10: 54-55.

Steinberg, P. E. und T. E. Chapman (2009): Key West’s Conch Republic. Building Sovereignties of Connection. In: Political Geography 28 (5): 283–295.