„Ich bin ein Mensch, holt mich hier raus“ – lieber nicht: Kritische Bildung als konfrontative Befremdung in einem Lernarrangement zu mehr-als-menschlichen Geographien
Abstract
Mehr-als-menschliche Geographien in der Unterrichtspraxis? – „Ich bin ein Mensch, holt mich hier raus!“ Das dürfte eine der Erstreaktionen selbstbewusster Schüler*innen auf ein Unterrichtsangebot sein, das den Menschen in geteilten Mitwelten aus Menschlichem und Nicht-Menschlichem dezentriert. Die Erwiderung „lieber nicht“ regt an, Lernprozesse im sozial-ökologischen Transformationskontext neu zu denken – jenseits einer Responsibilisierung der* Einzelnen und einer Empfehlung einfacher konsumtiver Anpassungen (z. B. Plastikreduktion, Energiesparen), wie es Schulbücher bislang anbieten (Lindau u. Kuckuck 2022).
In kritischen geographiedidaktischen Studien wird diese Anregung zu (vermeintlichem) Nachhaltigkeitshandeln auf lokaler Ebene im Rahmen einer Bildung für nachhaltige Entwicklung als Subjektivierung von Schüler*innen und ihre Verleitung zu Selbsttechnologien zwecks Reproduktion neoliberaler gouvernementaler Verhältnisse diskutiert (Gryl u. Naumann 2016, Lehner u. Gryl 2019, Neuffer 2020, außerschulisch auch Ghafoor-Zadeh u. Schreiber 2021). Um diese Vereinnahmung von Schüler*innen für neoliberale ökologische Modernisierungs-Logiken zu vermeiden und gleichzeitig eine Auseinandersetzung der Lernenden mit ihren neoliberal vorgeprägten Weltsichten zu ermöglichen, setzt der Vortrag Reflexivität als zentrale Leitfigur für ein transformatives Lernen. Reflexivität meint das „Denken der Relation zwischen Gegenstand, Selbst und Gesellschaft“ (Gryl u. Naumann 2016, 25). Kritisch-emanzipatorische Bildung verlangt also die Hinterfragung gegenwärtiger Gesellschaftsverhältnisse und ihre Überwindung mit alternativen Konzepten (ebd., 25ff.). Das Wiedererkennen der Lernenden selbst in diesen Gesellschaftsverhältnissen kann durch eine Befremdung von Selbst-Welt-Verhältnissen geleistet werden.
Anhand einer binnendifferenzierten Lernaufgabe will der Vortrag daher aufzeigen, wie Reflexivität in Bezug auf hegemoniale Naturbeziehungen und alternative mehr-als-menschliche Geographien ausagiert werden kann. Die kumulativ aufgebaute Lernaufgabe folgt einer thematisch fortschreitenden Linie: Geschichten des Scheiterns, Auf dem Weg zu einer neuen Geschichte, Geschichten des Gelingens (ähnlich bei Meyer u. Eberth 2018, 34f.), Meine eigene Geschichte. Es wird verdeutlicht, wie bisherige Weltsichten der Schüler*innen durch Bilder irritiert werden und ein „Othering von Natur“ (Schmitt u. Müller 2020, 82) offengelegt wird, wie mehr-als-menschliche Geographien didaktisch zugänglich gemacht werden und an praktizierten Mitweltnetzwerken (indigene Lebensweisen, Interspecies Communities, Rights of Nature) entdeckt werden können, um zuletzt zum Ausprobieren dieser neuen Perspektive in der Lebenswelt der Schüler*innen einzuladen. Am Ende des reflexiven Unterrichtsentwurfs finden sich so idealerweise nicht nur selbstbewusste, sondern auch Selbst-bewusste Lernende, die in Bezug auf geteilte Mitwelten äußern: „Ich bin ein Mensch, lasst mich hier drin!“