Kolonialer Krieg, postkoloniale Erinnerung: Eine Ethnographie in den Schulen der République

Vortrag
Sitzungstermin
Donnerstag (21. September 2023), 16:30–18:00
Sitzungsraum
HZ 3
Autor*innen
Matthias Hoenig (Universität Münster)
Kurz­be­schreib­ung
Der republikanische Kolonialismus und der Algerienkrieg haben der französischen Gesellschaft ein schweres diskursives Erbe hinterlassen, das Elemente der kolonialen Gewalt in die Gegenwart verlängert. Der Beitrag spürt der Reproduktion und der Subversion dieses Erbes bis in die Schule nach.
Schlag­wörter
Politische Geographie; Postkolonialismus; Schulethnographie

Abstract

Krieg und Frieden sind in diskursive Regime eingelassen. Ohne diese politisch ausgehandelten Bedeutungsschablonen hätte weder der Krieg noch der Frieden einen Sinn oder eine Substanz. Krieg und Frieden zeitigen nur im Rahmen solcher Diskurse ihre Folgen, zum Beispiel Leben, Tod oder Gewalt. Da Kriegsdiskurse genealogisch durch die Zeit reisen, ragen sie in den Zustand nach dem Krieg hinein, den man gemeinhin den Frieden nennt.

Dies verdeutlicht der algerische Unabhängigkeitskrieg (1954-1962) in besonderer Weise. Es beginnt beim Begriff. Spricht man vom „Algerienkrieg“, verwendet man eine Vokabel, die bis in die 90er Jahre in der französischen Öffentlichkeit tabuisiert war. Lieber verwendete man koloniale Euphemismen (z B. „Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Ordnung“). Diese suggerieren, das französische Militär habe bloß Ordnungsmaßnahmen auf französischem Boden durchgeführt, und reproduzieren die koloniale Doktrin, Algerien sei die transmediterrane Fortsetzung Frankreichs (Stora 1991: 13ff). Obwohl sie die Kriegsqualität zwar benennt, ist die heute übliche Rede vom „Algerienkrieg“ keineswegs neutral. Wer sich retrospektiv auf der Seite der algerischen Unabhängigkeitsbewegung verorten möchte, wird nämlich vom „algerischen Unabhängigkeitskrieg“ sprechen (Stora/Leclère 2007: 13).

Diese Begriffspolitik ist jedoch nur ein Symptom des postkonfliktiven Bedeutungskampfes, der den Algerienkrieg und die französische Kolonialgeschichte insgesamt kennzeichnet. Zahlreiche Autor*innen bezeichnen ihn als „Erinnerungskrieg“ (z.B. Liauzu 2005). Damit evozieren sie, „dass der Algerienkrieg noch nicht beendet ist“ (Liauzu 2000: 11), und zwar auf der diskursiven Ebene der Erinnerung. Zentraler Konfliktgegenstand sind die Überbleibsel kolonialer Legitimationsdiskurse, insbesondere des Zivilisationsdiskurses (z.B. Ziai 2016). Diese äußern sich heute insbesondere in Form einer positiven oder zumindest ambivalenten Bewertung der französischen Kolonialherrschaft. Eindrucksvolles Beispiel ist der rasch wieder gestrichene vierte Artikel des Gesetzes vom 23. Februar 2005, der „die positive Rolle der französischen Präsenz in Übersee“ zum verpflichtenden Schulstoff erhob.

Die Schule ist auch 15 Jahre später ein Kristallisationspunkt dieser ungelösten diskursiven Konflikte, in denen der Algerienkrieg und die Kolonialzeit insgesamt nachhallen. Denn die Schulklassen der République sind ein Begegnungsraum der kulturell hybriden, postkolonialen Gesellschaft. Pausen sich Deutungsmuster und Repräsentationshierarchien die koloniale Repräsentationshierarchien reproduzieren, in die schulischen Wissenspraktiken durch? Dieser Frage habe ich ein Dreivierteljahr lang in den Schulen der République schulethnographisch nachgespürt. Ihre Beantwortung lässt erkennen, dass die Geographie kolonialer Gewalt bis in die Gegenwart reicht. Sie lässt den Geschichtsunterricht zu einem hochpolitischen Ort werden und erlaubt eine postkoloniale Reflexion über die Grenzen zwischen „Krieg und Frieden“.