Krieg und Frieden (1/2)
Abstract der Sitzung
“War and Peace: What’s the difference?” fragte David Keen in einem einflussreichen Artikel schon vor über zwanzig Jahren. Seine Frage zielte auf die zunehmende Unmöglichkeit, klare Grenzen zwischen dem Zustand des Krieges und dem des Friedens zu ziehen. Vielmehr verschwimmen diese Grenzen immer mehr in gewalttätigen Konflikten. Derek Gregory spricht etwa pointiert vom «everywhere war», um die räumliche Entgrenzung des Krieges deutlich zu machen. Doch scheint die klare Trennung zwischen Krieg und Frieden noch immer den Blick auf aktuelle Konflikte zu prägen: So ist auch der Ausspruch des deutschen Bundeskanzlers über eine «Zeitenwende» zu verstehen, wenn damit gemeint sein sollte, es gebe wieder Krieg in Europa und dieser Zustand lasse sich trennscharf von einem früheren Zustand – «Frieden» - abgrenzen. Auch die Äusserung von Jürgen Habermas im Frühjahr 2022, der Krieg sei zurück in Europa, passt in diese Muster. Solche Sichtweisen verkennen die Tatsache, dass auch vor dem russischen Einmarsch in Europa der Krieg nicht ganz verschwunden war, und insbesondere auf dem Territorium der Ukraine schon seit einigen Jahren militärische Auseinandersetzung stattfanden, wenn auch auf weniger intensivem Niveau als heute. Ein postkolonial informierter Blick nach und über Europa hinaus soll dabei helfen, bestehende geopolitische Denkweisen von «Krieg und Frieden» aus ethnographischer Perspektive zu hinterfragen. Dazu setzt sich diese Fachsitzung zum Ziel, anhand verschiedener Fälle von heutigen Kriegen in unterschiedlichen Räumen der Welt die Dynamiken und Folgen des Verschwimmens der Grenzen zwischen «Krieg und Frieden» zu untersuchen und die unterschiedlichen «Geographien der Gewalt» aufzuzeigen, die vom Krieg betroffene Räume prägen, indem sie soziale, politische und ökonomische Beziehungen fragmentieren und zugleich neue Gewaltordnungen schaffen. Dazu laden wir Beiträge ein, die sich
- ethnographisch mit Räumen, Menschen und Ereignissen beschäftigen, die sich im Krieg, in Zwischenräumen zwischen Krieg und Frieden oder «nach dem Krieg» befinden,
- theoretisch an der Frage arbeiten, wie lassen sich die Grenzen zwischen «Krieg und Frieden» begrifflich-konzeptionell fassen,
- politisch die Frage stellen, wie ein postkolonialer Ansatz den geopolitischen Blick auf «Krieg und Frieden in Europa» verunsichern und neu justieren kann.