Kulturlandschaften als Stabilitäts- und Identitätsanker unter wechselnden politischen Verhältnissen: Gezeigt am Beispiel des östlichen Europas

Vortrag
Sitzungstermin
Mittwoch (20. September 2023), 11:00–12:30
Sitzungsraum
SH 1.104
Autor*innen
Peter Jordan (Österreichische Akademie der Wissenschaften; University of the Free State South Africa)
Kurz­be­schreib­ung
Heutige Kulturlandschaften oder Kulturregionen im östlichen Europa, die keine Verwaltungseinheiten und manchmal sogar durch Staatsgrenzen zerschnitten sind, blieben oft weiterhin Bezugseinheiten der Identität ihrer Bewohner, obwohl die (mit Ausnahme Jugoslawiens) zentralistischen kommunistischen Regime im östlichen Europa die Kulturlandschaften kaum jemals durch das Verwaltungssystem unterstützten und viel unternahmen die diesbezügliche Identität ihrer Bewohner vergessen zu machen. Durch Rituale der Erinnerung an gemeinsame kulturelle Merkmale und an eine gemeinsame Geschichte, auch durch die Bekanntheit eines Namens, bilden sie bis heute Identitätsanker unter wechselnden politischen Verhältnissen. Der Vortrag geht zunächst auf das kulturgeographische Verständnis von Kulturregionen oder Kulturlandschaften ein, bevor er auf deren Bedeutung als Identitätsanker anhand von Beispielen aus dem östlichen Europa zu sprechen kommt.
Schlag­wörter
Kulturlandschaften, Kulturregionen, Erinnerungskultur, geographische Namen, östliches Europa

Abstract

Kulturlandschaften sind nach geographischem Verständnis Strukturregionen im Sinne von Raumeinheiten mittlerer Größe, deren Teile durch (so wahrgenommene) gemeinsame kulturelle Merkmale eine relative Einheit bilden. Sie unterscheiden sich damit von Funktionsregionen, deren relative Einheit sich durch funktionale Beziehungen, z.B. durch die Ausrichtung auf ein gemeinsames Zentrum ergibt. Allerdings können Funktionsregionen zugleich auch Strukturregionen und damit Kulturregionen oder Kulturlandschaften sein. Das wird bei der Einrichtung von Verwaltungsregionen wie Bezirken, Kreisen, Provinzen usw. oft sogar als ein erstrebenswertes Ziel angesehen, denn die Verwaltungsregion kann sich damit auf eine stärkere gemeinsame raumbezogene Identität ihrer Bewohner stützen, was den Zusammenhalt und deren Engagement für die Region fördert.

Oft ist es aber auch so, dass heutige Kulturlandschaften oder Kulturregionen, die keine Verwaltungseinheiten und manchmal sogar durch Staatsgrenzen zerschnitten sind, ihre Identität und relative kulturelle Homogenität (bewahrt) haben, weil sie einmal politische Einheiten waren. Beispiele dafür sind das Banat, Siebenbürgen [Ardeal] , die Baranja [Baranja, Baranya], Galizien [Galicija, Galyčyna], die Bukowina [Bucovina, Bukovyna], Böhmen [Čechy], Mähren [Morava] oder Schlesien [Śląsk, Slezsko]. Die auf die Kulturlandschaft bezogene Identität der Bewohner ist nach wie vor ausgeprägt und blüht heute manchmal sogar wieder auf, obwohl die (mit Ausnahme Jugoslawiens) zentralistischen kommunistischen Regime im östlichen Europa alles dazu getan haben, die Kulturlandschaften im Verwaltungssystem verschwinden zu lassen und die diesbezügliche Identität ihrer Bewohner vergessen zu machen. Sie bildeten und bilden also durch Rituale der Erinnerung an (zumindest einst vorhandene) gemeinsame kulturelle Merkmale und an eine gemeinsame Geschichte, auch durch die Nennung eines Namens, der sich auf die gesamte Kulturlandschaft bezieht, Stabilitäts- und Identitätsanker unter wechselnden politischen Verhältnissen.

Dieser Beitrag wird zunächst auf das kulturgeographische Verständnis von Kulturregionen oder Kulturlandschaften eingehen, bevor er auf deren Bedeutung als Stabilitäts- und Identitätsanker mit laufenden Hinweisen auf Beispiele im östlichen Europa zu sprechen kommt.