Ländliche Räume als Zufluchtsort? Zum Einfluss von Krisen auf das Wanderungsgeschehen
Abstract
Mit dem Beitrag wird beleuchtet, wie Krisen auf Wanderungs- und Wohnstandortentscheidungen und somit auf räumliche Muster beim Wanderungsgeschehen einwirken. Es soll erörtert werden, ob ländliche Räume im Sinne eines „Zufluchtsortes“ gerade in Krisenzeiten eine besondere Anziehungskraft aufweisen. In einem ersten Schritt erfolgt eine theoretisch-konzeptionelle Auseinandersetzung, indem der Begriff der Krise mit etablierten Entscheidungsmodellen der Wanderungsforschung verknüpft wird. Er wird hierbei als externes Ereignis verstanden, das Rahmenbedingungen, Präferenzen und Prioritäten entscheidend verändern kann. Grundlage für die vorgenommene Integration in diese Modelle ist eine systematische Strukturierung von relevanten krisenhaften Ereignissen und Zuständen.
In einem zweiten Schritt wird empirisches Material zu Wegzugs- und Zuzugsgründen genutzt, das aus einer bundesweiten Bevölkerungsbefragung stammt. Es wird analysiert, welche Rolle Krisen bei den ausschlaggebenden Gründen für Wanderungs- und Wohnstandortentscheidungen spielen. Teilweise werden sie in den frei formulierten Antworten von den befragten Personen direkt angesprochen. Noch häufiger sind Krisen indirekt von Bedeutung, indem sie auf die genannten Gründe einwirken. Zum einen geht es darum, das inhaltliche Spektrum an relevanten Aspekten zu erfassen. Zum anderen soll eine Einschätzung zur quantitativen Bedeutung vorgenommen werden. Beispielhaft wird eine solche Analyse für die Corona-Pandemie als plötzlich aufgetretene Krise und für die in vielen urbanen Räumen bestehende Wohnungsknappheit als länger anhaltende krisenhafte Situation durchgeführt.
Mit dem dritten Schritt wird die Betrachtung auf das aktuelle Wanderungsgeschehen gerichtet, das sich in der Summe aus vielen individuellen Standortentscheidungen ergibt. Am Beispiel von zwei ländlich geprägten Fallstudienräumen in Nordrhein-Westfalen (Hochsauerlandkreis und Kreis Euskirchen) soll aufgezeigt werden, inwieweit sich Zuzüge, Fortzüge und Wanderungssalden in der jüngeren Vergangenheit verändert haben. Anhand von Datenanalysen und Interviewauswertungen wird erörtert, ob von „Stadtfrust“ bzw. „Landlust“ gesprochen werden kann und ob Krisen als Erklärungsansatz für Trendveränderungen einen Mehrwert bieten.
Der Beitrag basiert auf den Ergebnissen aus zwei Forschungsprojekten. Hierbei handelt es sich erstens um das Projekt „Vom Kommen, Gehen und Bleiben: Wanderungsgeschehen und Wohnstandortentscheidungen aus der Perspektive ländlicher Räume“ (KoBaLd), das vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft gefördert wurde. Zweitens finden Ergebnisse aus dem Projekt „Comeback ländlicher Regionen? Hintergründe, Ursachen und Treiber“ Berücksichtigung, das durch eine Förderung der Bertelsmann Stiftung ermöglicht wurde.