Lokale Care-Infrastrukturen von unten als Antwort auf strukturelle Sorgelosigkeiten
Abstract
Die Lücken und Ausschlüsse öffentlicher Care-Infrastrukturen und die Konsequenzen einer sich ausweitenden Care-Krise wurden in den letzten Jahren durch die Pandemie stärker sicht- und wahrnehmbar. Insbesondere in Städten spitzen sich die Auseinandersetzungen um den Zugang zu Care zu (Gabauer et al. 2022), womit vermehrt auch der räumliche Kontext dieser Kämpfe in den Blick gerät. Die urbane Aushandlung von Institutionen, Räumen und Beziehungen der Sorge vollzieht sich im Kontext zunehmend prekärer Lebensrealitäten, die von selektiven Ein-/Ausschlüssen durch das Migrationsregime, prekarisierten Arbeitsverhältnissen, steigender Armut und einer verschärften Wohnungskrise gekennzeichnet sind. Während die institutionelle Ebene von Care in Arbeitskämpfen wie in der Berliner Krankenhaus-Bewegung adressiert werden, entstehen in Nachbarschaften und Stadtteilen “Care-Infrastrukturen von unten” (Gutiérrez Sánchez 2021, Schilliger 2022). Am Beispiel von zwei selbstorganisierten Solidaritätsinitiativen in Berlin (Bilgisaray) und Bern (Gemeinschaftszentrum Medina) diskutieren wir, inwiefern sich in lokalen, nachbarschaftlichen Räumen ein sorgender und kollektiver Umgang mit den individualisierenden und prekarisierten städtischen Lebensrealitäten entwickelt.
Dabei zeigt sich, dass die in die beiden Solidaritätsinitiativen involvierten Akteure mit ihrer kollektiven Praxis des Kochens einerseits eine praktische Antwort auf konkrete Alltagsbedürfnisse geben, andererseits strukturelle Sorglosigkeiten politisieren und dabei umfassendere Kämpfe um das Recht auf Fürsorge und um (städtische) Bürger*innenrechte führen. Die so entstehenden kollektiven Räume und mobilen ‘care commons’ sind Ausdruck von Bestrebungen, emanzipatorische Infrastrukturen zu schaffen, die nicht durch Abhängigkeit von staatlicher Fürsorge und Kontrolle geprägt sind und in denen – trotz vielfältiger Differenzen der involvierten Subjekte – ein sorgendes Miteinander gelebt werden kann.
Von Interesse ist nicht nur, inwiefern konkrete Orte und räumliche Settings die Entstehung von solidarischen Beziehungen mitstrukturieren, sondern auch wie Praktiken der Solidarität ihrerseits selbst Räume auf unterschiedlichen Skalen hervorbringen und transformieren können. Dabei zeigt sich, dass Praxen und Erfahrungen durch die Bewegungen der Migration und durch translokale Beziehungen weitergetragen werden. So steht die Praxis von Bilgisaray in Berlin in engem Zusammenhang mit der Mobilität von Geflüchteten über Griechenland nach Deutschland und den kollektiven Praxen und Beziehungen, die entlang von Fluchtrouten wachsen; Medina in Bern wiederum schafft eine translokale Verbindung zu Lagern ausserhalb der Stadt.