Materielles Kulturerbe auf der Kurischen Nehrung und die Rezeption der Einwohner

Vortrag
Sitzungstermin
Mittwoch (20. September 2023), 11:00–12:30
Sitzungsraum
SH 1.104
Autor*innen
David Fuchs (Tübingen)
Kurz­be­schreib­ung
Auf der Kurischen Nehrung finden sich heute auf kleinem Raum zwei unterschiedliche Zugangsweisen zum einem gemeinsamen Kulturerbe. Der Beitrag analysiert die Ursachen und ihre Folgen dieser Entwicklung.
Schlag­wörter
Kurische Nehrung; Materielles Kulturerbe; Erinnerungslandschaften; Identität

Abstract

Die Kurische Nehrung liegt am östlichen Ufer der Ostsee. Sie wird landseitig zusätzlich vom Kurischen Haff begrenzt, was sie zu einer Halbinsel macht, die nur im Süden eine schmale Landverbindung besitzt. Historisch war sie maßgeblich von Kuren, Litauern und Deutschen besiedelt und war ein Teil des Memellandes und Ostpreußens. Heute ist sie politisch und kulturell zweigeteilt. Sie gehört jeweils zur Hälfte zur Russischen Föderation (im Süden) und zu Litauen (im Norden), welche jeweils die nationale Mehrheit der Einwohner stellen. Zwischen der historischen und der heutigen Besiedlungsepoche der Kurischen Nehrung liegt das Ende des Zweiten Weltkriegs, welches die Vertreibung der vorherigen Bevölkerung und eine Neubesiedlung zur Folge hatte.

In den beiden Teilen der Kurischen Nehrung dominieren heute unterschiedliche Umgangsweisen mit dem kulturellen Erbe und den Folgen des Zweiten Weltkriegs. Augenfälliges Zeichen für den unterschiedlichen Umgang ist das Materielle Kulturerbe und seine Inwertsetzung in den Ortschaften auf der Kurischen Nehrung. Darin spiegelt sich von offizieller Seite auch der unterschiedliche Umgang der beiden Staaten mit der Vergangenheit des Memellandes und Ostpreußens wider, welcher jedoch allein nicht für die Erklärung der heutigen Erscheinung der Ortschaften ausreicht.

Durch den nahezu kompletten Austausch der Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg, waren die neuen Einwohner gezwungen neue kollektive Erinnerungen zu schaffen, welche nur teilweise Bezug auf die vorherige Geschichte nehmen können. Gleichzeitig benötigten sie diese kollektive Erinnerung zur Aneignung der neuen Heimat und der Stabilisierung der eigenen Identität. Dies geschah auf unterschiedliche Weise und unterschiedlichen staatlichen Bedingungen. Somit ist die Kurische Nehrung eine besondere Form der Erinnerungslandschaft.

In meinen Vortrag argumentiere ich, dass sich der Übergang daher in den Verhaltensweisen der heutigen Bewohner der Ortschaften der Kurischen Nehrung und ihrer materiellen Praxen widerspiegelt und dabei jedoch über die staatliche Haltung zur Geschichte des Memellandes und Ostpreußens hinausgeht. Sowohl in der Erscheinung der heutigen Ortschaften als auch in Interviews mit den Einwohnern lassen sich unterschiedliche Praktiken in Bezug auf die Vergangenheit ihrer Heimat identifizieren. Dabei ist im russischen Teil der Kurischen Nehrung zum Teil eine Verdrängung beziehungsweise Projektion erkennbar, während im litauischen Teil eine Inkorporation inklusive eines Verweises auf eine gemeinsame kollektive Vergangenheit mit den vorherigen Einwohnern stattfindet. Diese unterschiedlichen Zugänge sind immer auch mit unterschiedlichen Orten der Erinnerung und bedeutungstragender Materialität verbunden.