Mensch-Wolf-Verstrickungen zwischen Resonanz und Entfremdung
Abstract
Wölfe kehren in den europäischen Alpenraum zurück. Diese Entwicklung geht in den betroffenen Regionen mit überraschenden Begegnungen zwischen den Lebewesen sowie mit neuen Gegebenheiten in der Land‑, Jagd- und Forstwirtschaft einher, die in erster Linie durch den Leib erfahren werden. Dieser Beitrag identifiziert die Koexistenz zwischen Menschen und Wölfen daher als eine leibliche Praxis, aus der die Entitäten konstitutiv hervorgehen. Oder anders formuliert: Wölfe „durchwandern“ den Körper von Menschen, niemand bleibt in den betroffenen Gebieten von den Tieren unberührt, so wie auch umgekehrt die Menschen und deren Spuren und Gerüche durch die Wölfe hindurch prozessieren und dieselben verändern. Eine Analyse dieses nonverbalen und insofern schwer greifbaren „Da_zwischens“ von Mensch und Tier ist nicht trivial, da sie eine neue Art der Erforschung und Befragung von Beziehungserfahrungen erfordert, für die es bislang weder ausreichend theoretische Perspektivierungen noch methodische Zugänge gibt. Sie ist jedoch von Relevanz, denn wie dieser Beitrag zeigt, bestimmen leibliche und viszerale Aspekte politische Entscheidungen über Leben und Tod der Tiere. Zudem gehen aus den Verstrickungen zwischen Menschen und Wölfen Mobilitäten und Immobilitäten sowie neue Materialitäten und Territorialisierungen hervor, welche die Dynamik des Lebens in der alpinen Kulturlandschaft radikal verändern. Vor diesem Hintergrund baut der Beitrag auf zwei miteinander verknüpften Diskussionssträngen auf: Der erste durchleuchtet die Dynamik in Mensch-Wolf-Beziehungen aus einem theoretischen Blickwinkel und greift dazu auf das Intraaktionskonzept (Barad 2007) sowie auf die Resonanztheorie (Rosa 2016) zurück. Am empirischen Beispiel des Schweizer Calandas können so neue und tiefgehende Einsichten in die leibliche Verbundenheit und Kommunikation zwischen Menschen und Wölfen, in den Zusammenhang zwischen Weltverhältnis und Wolfsakzeptanz sowie in die Konstitution von Grenzziehungen in der Wolfsdebatte gewährt werden. Der zweite Diskussionsstrang thematisiert die method(olog)ischen Konsequenzen, die sich aus der Kritik der gewählten Theorien am Anthropozentrismus und der Erforschung multisensorischer Dimensionen in Mensch-Tier-Verhältnissen ergeben. Der Beitrag lädt ein, das Verhältnis zwischen Menschen und Wölfen bzw. zwischen Menschen und Tieren im Generellen, neu zu denken. Dazu entwickelt er eine mehr-als-menschliche Geographie des Verbundenseins, die eine Koexistenz in Aussicht stellt, die nicht auf Entfremdung voneinander, sondern auf Verbindung zueinander basiert. Auf menschlicher Dominanz und Kontrolle basierende Wahrheitskonzepte werden in dieser Vorstellung von Zusammenleben als überholt angesehen. Stattdessen werden die Unbestimmtheit und die Unverfügbarkeit von Wölfen als wichtige Ressourcen betrachtet, um Lebendigkeit und Selbstwirksamkeit zu erfahren und um aus dieser Offenheit gegenüber der Mitwelt Kraft für Neues zu schöpfen.